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Zur Notwendigkeit einer Reform des Deputatsmodells

Ein Beitrag von Dipl. Päd. Robert Lachner



Die Treiber der Debatte

Die Arbeitsbelastungen von Lehrkräften sind zuletzt wieder stärker in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung gerückt. Ursächlich hierfür ist die Koinzidenz gleich dreier Treiber:

  • Schlagworte wie „Digitalisierung“, „Diversität“, „Inklusion“, „Chancengerechtigkeit“, „Durchlässigkeit“ oder „Demokratiebildung“ stehen exemplarisch für eine lange Reihe der gestiegenen Anforderungen an Lehrerinnen und Lehrer, die durch gesellschaftliche Transformationsprozesse hervorgerufen werden.
  • Angesichts des Lehrkräftemangels werden seitens der Politik verschiedene Maßnahmen umgesetzt, die mit einer Mehrbelastung bzw. Verschlechterung der Arbeitsbedingungen von Lehrkräften einhergehen. So
    wurde etwa in Sachsen-Anhalt das Deputat für alle Lehrkräfte um eine Unterrichtsstunde, die sogenannte Vorgriffstunde, erhöht, während die Möglichkeiten von Teilzeitbeschäftigungen in Nordrhein-Westfalen (NRW) durch das „Handlungskonzept Unterrichtsversorgung“ eingeschränkt worden sind.
  • Gemäß dem „Stechuhr-Urteil“ des Europäischen Gerichtshofes (2019) sowie dem analogen Grundsatzurteil des Bundesarbeitsgerichts (2022) sind Arbeitgeber im Sinne des Arbeitsschutzes dazu verpflichtet, ein System zur Messung der geleisteten Arbeitszeit einzuführen. Inwieweit dies auch für die Beschäftigten an Schulen gilt, ist derzeit noch unklar, zweifelsohne aber stünde es Lehrkräften infolge einer verpflichtenden Arbeitszeiterfassung zu, geleistete Überstunden abzubauen.

Die drei Phänomene beschreiben zwar die Hintergründe des aktuellen Diskurses über Arbeitsbelastungen, sie liefern allerdings noch keine konkreten Hinweise über deren Ausmaß. In den Blick zu nehmen sind daher die tatsächlichen Arbeitszeiten auf der einen sowie das Belastungserleben auf der anderen Seite.


Arbeitszeiten und -belastungen von Lehrkräften


Alle einschlägigen Studien der letzten 60 Jahre zeigen, dass die Arbeitszeiten von Lehrkräften oberhalb der üblichen Arbeitszeiten des öffentlichen Dienstes liegen (Hardwig & Mußmann: 2018). Für Lehrkräfte an Gymnasium und Gesamtschulen (inkl. vergleichbarer Schulformen) kommen Mußmann, Hardwig, Riethmüller und Klötzer (2021) in einer der aktuellsten Studien zu dem Ergebnis, dass deren Arbeitszeit eine standardmäßige 40-Stunden-Woche um ca. drei Stunden überschreitet. Während der Unterrichtszeit liegt ihr Arbeitspensum sogar bei fast 50 Stunden wöchentlich. Auch die an Grundschulen tätigen Lehrerinnen und Lehrer arbeiten oberhalb ihrer Soll-Arbeitsstunden (Hardwig & Mußmann, 2018), wenngleich für ihre Gruppe keine aktuellen Daten vorliegen. Es sind die außerunterrichtlichen Tätigkeiten, also etwa die Vor- und Nachbereitung von Unterricht, Aufsichten, Korrekturarbeiten, Teambesprechungen, Schulfahrten oder Weiterbildungen, die als Hauptursache der Mehrarbeit identifiziert werden können (Mußmann et al., 2021). Dieser Teil der Arbeit hat nicht nur stark zugenommen, er macht auch insgesamt mit rund zwei Dritteln den Großteil des Tätigkeitsspektrums aus. Das verbleibende Drittel fällt auf die Unterrichtszeit.

Eine große Mehrheit der Lehrkräfte gibt der „Frankfurter Arbeitszeit- und Arbeitsbelastungsstudie“ zufolge an, dass die Zunahme außerunterrichtlicher Aufgaben zu hohen Belastungen führe, unter denen u. a. die Vor Gleichgewicht und Nachbereitung (73 %) sowie die Qualität des Unterrichts (63 %) leide (Mußmann, Hardwig, Riethmüller, Klötzer & Peters, 2020). Zu den weiteren starken Belastungsfaktoren zählen hohe emotionale und psychische Beanspruchungen sowie eine fehlende Work-Life-Balance. Insgesamt erleben 83 % der im „Deutschen Schulbarometer“ befragten nordrhein-westfälischen Lehrkräfte ihre persönliche Arbeitsbelastung als stark oder sehr stark, während fast niemand (1 %) die Arbeitsbelastung für gering hält (forsa, 2022).

Dabei ist es vor allem die auf die Schulzeit verdichtete Arbeitszeit, die „aufgrund von Mehrarbeit, Spitzenbelastungen und fehlenden Erholzeiten erhebliche Gesundheitsgefährdungen“ (Mußmann & Hardwig, 2022, S. 6) birgt. In der Folge sind Lehrerinnen und Lehrer von psychischen und psychosomatischen Erkrankungen sowie von unspezifischen Beschwerden (u. a. Erschöpfung, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Angespanntheit) eher betroffen als viele andere Berufsgruppen (Mußmann & Hardwig, 2022).

Mit Blick auf die besorgniserregenden Befunde stellt sich die Frage, auf welche Art und Weise die Arbeitszeiten von Lehrkräften operationalisiert werden und inwieweit Möglichkeiten zur Herstellung eines Gleichgewichts bestehen.


Das Deputatsmodell

Im Rahmen des geltenden Deputatsmodells wird der wöchentlich zu erteilende Unterricht, und somit ca. lediglich ein Drittel der Arbeitszeit, konkret ausgewiesen. Dieser „determinierte Teil“ der Arbeitszeit (Mußmann & Hardwig, 2022) wird schulformspezifisch zugewiesen und variiert bundesländerübergreifend genauso wie die grundsätzliche Beschreibung der Aufgabenfelder.

Die wöchentlichen Pflichtstunden in NRW an allgemeinbildenden Schulen liegen zwischen 25,5 und 28 Stunden und werden im Alter von 55 und 60 Jahren reduziert (MSB, 2023). Weitere Ermäßigungen sind insbesondere über sogenannte „Anrechnungsstunden“ möglich, die für die ständige Wahrnehmung besonderer schulischer Aufgaben, zum Ausgleich besonderer unterrichtlicher Belastungen, für die Mitgliedschaft im Lehrerrat und für die Tätigkeit als Ansprechperson für Gleichstellungsfragen vorgesehen sind (§ 2 Abs. 5 VO zu § 93 Abs. 2 SchulG). Weil mit dem Instrument der Anrechnungsstunden in erster Linie eine Tätigkeit (Unterricht) durch eine andere kompensiert wird, dient es nicht der Entlastung von Mehrarbeit.

Erschwerend hinzu kommt, dass das seit 1873 bestehende Deputatsmodell den höheren „obligaten Teil“ (Mußmann & Hardwig, 2022) der Arbeitszeit den Lehrkräften zur eigenverantwortlichen Regulierung überlässt. Überstunden können somit weder bezahlt noch durch Ausgleichstage abgegolten werden. Auf diese Weise verschleiert das bestehende System die tatsächlichen Arbeitszeiten von Lehrkräften zu ihren Ungunsten. Wie Mark Rackles (2023) in seiner Expertise außerdem feststellt, kommt es je nach Schulart, Schulstufe und Fächerkombination zu Streuungen der Ist-Arbeitszeiten von bis zu 25 %, die in den schulformzentrierten, einheitlichen Deputatsstunden nicht berücksichtigt würden.


Das Hamburger Lehrerarbeitszeitmodell (LAZM)

Angesichts vergleichbarer Problematiken haben sich die meisten OECD-Länder vom Deputatsmodell gelöst. Innerhalb Deutschlands geht einzig das Bundesland Hamburg einen anderen Weg und führt bereits im Jahre 2003 ein Jahresarbeitszeit-Modell ein, bei dem eine 40-Stunden-Woche umgerechnet wird in 1.770 Jahresarbeitsstunden, bestehend aus 38 Unterrichtswochen mit je 46,57 Zeitstunden. Das Aufgabenprofil von Lehrkräften wird im Hamburger Lehrerarbeitszeitmodell (LAZM) differenziert nach drei Clustern mit jeweils unterschiedlichen Anteilen (Rackles, 2023):

  • unterrichtsbezogene Aufgaben (75 %)
  • allgemeine Aufgaben (10 %) in der Schule (unter anderem Konferenzen, Fortbildungen, Vertretungen)
  • schulorganisatorische Aufgaben (15 %) wie Funktionszeiten (bspw. als Klassenlehrkräfte, Fachleitung)

Zudem wurde eine Fächerfaktorisierung eingeführt, die einen unterschiedlichen Arbeitsaufwand der Unterrichtsfächer abbildet, ebenso wird mit steigender Schulstufe eine höhere Faktorisierung vorgenommen. Die Schulbehörde weist jeder Schule in einem ersten Schritt das ermittelte Arbeitszeitbudget zu, sodann bestimmt die Schulleitung für jede Lehrkraft ein individuelles Arbeitszeitbudget unter Benennung der übertragenen Aufgaben. Mithilfe von Arbeitszeitkonten werden die individuellen Arbeitszeiten dokumentiert (ebd.).


Einschätzung des VBE NRW

Zu einer Verbesserung der Rahmenbedingungen scheint die Hamburger Herangehensweise nicht geführt zu haben. Wie die beiden Landesvorsitzenden des VBE NRW, Anne Deimel und Stefan Behlau, in ihrer Stellungnahme für eine Anhörung des Ausschusses für Schule und Bildung deutlich machen, ist das Deputatsmodell in seiner jetzigen Form zwar nicht mehr zeitgemäß, allerdings offenbart auch das LAZM gravierende Schwächen (VBE NRW, 2024). Vor allem kann bezweifelt werden, ob die Faktorisierung den tatsächlichen Aufwand je Fach und Schulform angemessen und somit gerecht widerspiegelt. Auch verfügt die Hansestadt über den höchsten Anteil an Teilzeit-Lehrkräften, der in den vergangenen Jahren sogar gestiegen ist. Mögliche Zusammenhänge mit dem LAZM sollten sorgfältig eruiert werden; zu analysieren sein werden ebenso die Ergebnisse einer groß angelegten Arbeitszeit- und Belastungsstudie der Kooperationsstelle Hochschulen und Gewerkschaften der Georg-August-Universität Göttingen, die im November startete. Belastbare Befunde zu den Arbeitszeiten von Lehrkräften in Hamburg stehen bislang nämlich weitestgehend aus.

Aus Sicht des VBE NRW stellt eine Reform des Deputatsmodells eine notwendige, allerdings noch keine hinreichende Bedingung dafür dar, Entlastung auf der einen Seite zu ermöglichen sowie die Attraktivität des Lehrkräfteberufs auf der anderen Seite zu steigern. In dieser Hinsicht sind die bereits vielfach geforderten Maßnahmen erfolgsversprechender – u. a. eine Abkehr von der restriktiveren Überprüfung von Anträgen auf Teilzeit, Maßnahmen für eine bessere Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf, eine Senkung der Deputate, eine Verringerung der Verwaltungs- und außerunterrichtlichen Aufgaben, eine Stärkung und Ausweitung des professionsspezifischen Einsatzes der Personen in den multiprofessionellen Teams sowie eine Reduktion der Klassengrößen.

Über die konkrete Ausgestaltung eines neuen Deputats bzw. über die Implementierung eines Arbeitszeitmodells werden nicht nur in NRW noch viele Dialoge zu führen sein, in denen gleichermaßen auch die mit weitreichenden Konsequenzen verbundene Frage nach der Einführung von Instrumenten zur Arbeitszeiterfassung zu beantworten sein wird.


Robert Lachner
Dipl.-Päd. Robert Lachner 0231 449900 18 0173 40 76 630




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