Interview mit Prof. Dr. Karim Fereidooni, Professor für Didaktik der sozialwissenschaftlichen Bildung an der Ruhr-Universität Bochum. Prof. Dr. Karim Fereidooni ist Referent auf der Veranstaltung „VBE im Gespräch“:
Was bedeutet eigentlich Rassismuskritik?
Rassismuskritik bedeutet, rassismusrelevante Wissensbestände, Denkweisen und Handlungspraktiken kritisch zu hinterfragen. Es geht darum, die eigene Perspektive sowie institutionelle Strukturen daraufhin zu überprüfen, wo und wie Rassismus wirkt. In meiner Arbeit mit Studierenden und Lehrkräften stelle ich immer wieder zentrale Fragen, um diese Reflexion anzuregen: • Was hat Rassismus mir beigebracht – selbst wenn ich nicht rassistisch sein möchte? • Welche rassismusrelevanten Dynamiken gibt es in meiner Schule, meinem Lehrerzimmer oder meinem Klassenzimmer? • Reproduzieren meine Unterrichtsmaterialien, insbesondere Schulbücher, rassistische Denkmuster? • Welche Maßnahmen kann ich ergreifen, um meine Schule diskriminierungssensibler zu gestalten? Rassismuskritik erfordert eine bewusste und kontinuierliche Auseinandersetzung mit Rassismus – sowohl auf individueller als auch auf institutioneller Ebene. Ziel ist es, Rassismus sichtbar zu machen, Schüler/-innen für das Thema zu sensibilisieren und schulische Strukturen so zu verändern, dass sie weniger rassistisch wirken.
Welche Verantwortung trägt die Gesellschaft insgesamt bei der Bekämpfung von Rassismus und welche Rolle sollten Bildungsinstitutionen dabei einnehmen?
Unsere Gesellschaft ist demokratisch verfasst und an das Grundgesetz gebunden. Art. 1, Abs. 1 stellt die Würde des Menschen unter besonderen Schutz. Daher trägt die gesamte Gesellschaft die Verantwortung, sich aktiv gegen Rassismus zu positionieren. Wie der Bundespräsident einmal sagte: Es reicht nicht, gegen Rassismus zu sein – man muss antirassistisch sein. Bildungsinstitutionen spielen dabei eine entscheidende Rolle. Schulen, Universitäten und Volkshochschulen müssen sich klar gegen Rassismus engagieren. Lehrkräfte sind nicht nur Wissensvermittelnde, sondern auch Vorbilder und Repräsentanten des Staates. Wenn Bildungseinrichtungen rassistische Strukturen aufrechterhalten oder tolerieren, führt das zu einem Vertrauensverlust in gesellschaftliche Institutionen insgesamt. Lehrkräfte haben eine besondere Verantwortung als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren. Sie müssen Schülern/-innen vermitteln, wie Schule rassismuskritisch und gerecht für alle gestaltet werden kann. Ihr Ziel sollte es sein, junge Menschen darauf vorzubereiten, sich in einer demokratischen Gesellschaft reflektiert und verantwortungsbewusst zu bewegen. Bildungsinstitutionen geben dabei den Ton an – sie können einen maßgeblichen Beitrag zur Gestaltung einer gerechteren Gesellschaft leisten.
Warum ist Rassismuskritik besonders in Bildungseinrichtungen wie Schulen wichtig? Welche langfristigen Auswirkungen erhoffen Sie sich von einer konsequenten Implementierung der Rassismuskritik in Schulen und Gesellschaft?
Rassismuskritik ist in Schulen essenziell, weil hier grundlegende Werte für das Zusammenleben in einer demokratischen Gesellschaft vermittelt werden. Eine rassismussensible Schule bereitet Schülerinnen und Schüler darauf vor, Diskriminierung zu erkennen und sich für eine gerechte Gesellschaft einzusetzen. Ich glaube nicht, dass es jemals vollkommen rassismusfreie Schulen geben wird – Fehler passieren, ob bei Lehrkräften, Schülern/-innen oder Institutionen. Entscheidend ist der Umgang damit. Schulen sollten Rassismussensibilität fördern und rassismuskritische Organisationsentwicklungen vorantreiben, damit Lehrkräfte und Schüler/-innen ohne Unsicherheiten über Rassismus sprechen können. Die konsequente Implementierung von Rassismuskritik würde langfristig dazu führen, dass die gesamte Gesellschaft sensibler mit dem Thema umgeht, diskriminierende Strukturen erkennt und aktiv für Gerechtigkeit eintritt.
Warum ist es nach wie vor schwierig, über Rassismus(erfahrungen) in Gesellschaft und Schule zu sprechen?
Viele Menschen haben nicht gelernt, angemessen über Rassismus zu sprechen – insbesondere, wenn sie selbst betroffen sind. Häufig wird Rassismus als ein Problem extremistischer Gruppen betrachtet, etwa von Rechtsextremen oder bestimmten politischen Lagern. Die sogenannte „Mitte der Gesellschaft“ entlastet sich dadurch und glaubt, rassismuskritisch zu sein, ohne sich selbst kritisch zu hinterfragen. Doch Rassismus ist tief in alltäglichen Strukturen, Denkweisen und Sprache verankert. Rassismus ist nicht nur eine Frage der Intention, sondern vor allem eine Frage der Wirkung – von Aussagen, Sprechweisen und Handlungspraktiken. Um über Rassismus zu sprechen, müssen wir diejenigen anhören, die ihn tatsächlich erfahren. So wie wir Frauen zu Sexismus befragen würden, müssen wir auch Betroffene von Rassismus in den Diskurs einbinden. Doch genau das geschieht oft nicht, weil viele Menschen sich gegen die Vorstellung wehren, selbst Teil rassistischer Strukturen zu sein. Empirische Studien wie die „Mitte-Studie“ zeigen jedoch, dass rassistische Einstellungen in allen gesellschaftlichen Schichten verbreitet sind – unabhängig von der politischen Orientierung. Um langfristig etwas zu verändern, müssen wir uns dieser Realität stellen. Es braucht mehr Offenheit und Bereitschaft, über Rassismus zu sprechen, strukturelle Probleme zu erkennen und aktiv an Lösungen zu arbeiten.
Welche Maßnahmen sollten Schulen und Lehrkräfte Ihrer Meinung nach ergreifen, um Rassismuskritik aktiv in den Unterricht zu integrieren?
Schulen und Lehrkräfte haben zahlreiche Möglichkeiten, Rassismuskritik in den Unterricht zu integrieren. Sie sollten Schülern/-innen sowie Kolleginnen und Kollegen aktiv einbeziehen, pädagogische Tage nutzen, Expertinnen und Experten einladen und gezielt Fortbildungen zu diesem Thema besuchen. Es gibt viele didaktische Materialien und Organisationen mit jahrzehntelanger Erfahrung in der Antirassismusarbeit, die Schulen unterstützen können. Wichtig ist es auch, Stimmen aus verschiedenen Lebensrealitäten ernst zu nehmen. Ein möglicher Ansatz wäre, Wettbewerbe auszuschreiben, um kreative Lösungen gegen Rassismus an der Schule zu fördern. Zudem könnten Studierende empirische Studien durchführen, um herauszufinden, inwiefern Rassismus an der Schule existiert und wen er betrifft. Langfristig sollte Rassismuskritik systematisch in die Lehrkräfteausbildung integriert werden. Die entsprechenden Ausbildungsgesetze in Deutschland sollten Themen wie Rassismus, Antisemitismus, Menschenfeindlichkeit und Vielfalt verbindlich vorschreiben. Dies würde sicherstellen, dass angehende Lehrkräfte schon in ihrer Ausbildung fundierte Kenntnisse über diese Themen erhalten. Schulleitungen spielen dabei eine Schlüsselrolle: Sie sollten sicherstellen, dass Fortbildungen nicht nur freiwillig, sondern strukturell verankert sind. Nur wenn Rassismuskritik als fester Bestandteil der Schul- und Lehrkräfteentwicklung verstanden wird, können nachhaltige Veränderungen stattfinden.
Weiterführende Informationen
Fereidooni, Karim (2016): Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen im Schulwesen. Eine Studie zu Ungleichheitspraktiken im Berufskontext. Wiesbaden: Springer VS. Abrufbar unter: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/20203/
Fereidooni, Karim/Simon, Nina (2022): Rassismuskritische Fachdidaktiken. Theoretische Reflexionen und fachdidaktische Entwürfe rassismuskritischer Unterrichtsplanung. 2. überarbeitete Auflage. Springer VS.
Salzmann, Sebastian/Fereidooni, Karim (2024): Antisemitismus als soziales Phänomen in der Institution Schule. Ergebnisse einer qualitativen Unterrichtsbeobachtungsstudie. In. Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Jg 33., S. 113-135.
Schneider, Fabian/Fereidooni, Karim (2024): Das Themenfeld Rechtsextremismus in Kernlehrplänen und Schulbüchern des sozialwissenschaftlichen Unterrichts in NRW. In: Zeitschrift für Rechtsextremismusforschung. Jg. 4, Heft 1, S. 105-118.