Startseite > Service > Stellungnahmen > 2023 > Stellungnahme des VBE NRW zum Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion der FDP „Chancengleichheit für Kinder mit Lese-Rechtschreibstörung & Rechenschwäche“ Drucksache 18/4357

Stellungnahme des VBE NRW zum Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion der FDP „Chancengleichheit für Kinder mit Lese-Rechtschreibstörung & Rechenschwäche“ Drucksache 18/4357

Der VBE NRW begrüßt diesen Antrag, nimmt er doch eine Thematik in den Fokus, mit der sich täglich betroffene Schülerinnen und Schüler, ihre Eltern und die beteiligten Lehrkräfte auseinandersetzen müssen. Dabei dominiert bei allen drei Personengruppen oft das Gefühl, keine ausreichende Unterstützung zu bekommen.

Das hat Auswirkungen:

  • Schülerinnen und Schüler erleben, dass es ihren Mitschülerinnen und Mitschülern offenbar leichtfällt, Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen. Sie selbst finden keinen Zugang zu den Lerngegenständen. Die Folge ist Verunsicherung, Lernfrust und fehlende Lernmotivation durch ausbleibende Lernerfolge. Betroffene Kinder leiden oft unter mangelndem Selbstbewusstsein, da sie sich selbst als unzulänglich wahrnehmen. Einige von ihnen ziehen sich aus der Klassengemeinschaft zurück, andere werden verhaltensauffällig.
  • Eltern möchten ihren Kindern helfen, wissen aber oft nicht, wie sie sie unterstützen können. In vielen Familien heißt es dann üben, üben, üben. Da den Eltern dann das Wissen fehlt, wie sie sinnvoll und effektiv mit ihren Kindern arbeiten können, geraten die Schülerinnen und Schüler noch weiter unter Druck. Die zunehmende Belastung ist in den Familien vorprogrammiert. Die Hilflosigkeit der Eltern steigt mit zunehmenden Lerninhalten an, da sie nicht wissen, wo sie entsprechende Informationen und Ansprechpartnerinnen bzw. Ansprechpartner finden.
  • Lehrkräfte sind in den Bereichen LRS und Rechenschwäche unterschiedlich aufgestellt.

Wenn ein Kind Schwierigkeiten hat, das Lesen und/oder das Rechtschreiben zu lernen, sind viele in der Lage, eine LRS und den notwendigen Förderbedarf festzustellen. In vielen Schulen fehlen aktuell aber die zeitlichen und personellen Ressourcen, Kindern die erforderliche Einzel- oder Kleingruppenförderung zukommen zu lassen. Leider muss in diesem Zusammenhang auch festgehalten werden, dass – besonders in den Grundschulen – aufgrund des Fachkräftemangels nur selten die (gesetzlich vorgeschriebenen) LRS-Förderstunden überhaupt in den Stundentafeln angeboten werden.

Eine eigene Betrachtung erfordert der Umgang mit Kindern, die Schwierigkeiten haben, das Rechnen zu erlernen. Zu wenige Lehrkräfte verfügen über ausreichende Kenntnisse, um eine Rechenschwäche erkennen und diagnostizieren zu können. In diesem Bereich gibt es enormen Aufholbedarf.

Generell muss festgehalten werden, dass es für die betroffenen Schülerinnen und Schüler sehr wichtig ist, dass ihre Förderbedarfe frühzeitig erkannt werden und sie Zugang zu einer professionellen Förderung erhalten. Das erhöht ihre Chance auf einen gelingenden Schul- und Bildungsweg wesentlich.

Wenn Lehrkräfte und Eltern gemeinsam der Ansicht sind, dass zusätzlich zur schulischen eine professionelle außerschulische Förderung (z. B. an einem ‚Mathematisch lerntherapeutischen Zentrum‘) notwendig ist, ist der Zugang zu dieser zu erleichtern und kostenlos zu ermöglichen.

In NRW unterrichten viele Lehrkräfte fachfremd. Und nicht nur das. Viele Kinder werden von Personen unterrichtet, die weder ein Lehramtsstudium absolviert noch die notwendigen Fort- und Weiterbildungen für den Deutsch- und Mathematikunterricht besucht haben.

Für den VBE NRW wird in Beratungen immer wieder deutlich, dass verschiedene Begrifflichkeiten synonym verwendet werden, was zu Unsicherheiten bei den Beteiligten führt („Was hat mein Kind denn jetzt?“). Im Bereich des Lesens und Schreibens sind das: „LRS“, „Lese-Rechtschreibstörung“, „Lese-Rechtschreibschwäche“, „Legasthenie“, im Bereich der Mathematik: „Rechenschwäche“, „Rechenstörung“, „Dyskalkulie“. Hinzu kommen noch die Formulierungen „Kinder, die Schwierigkeiten haben, das Lesen und Rechtschreiben bzw. das Rechnen zu erlernen“.

Diese verschiedenen Begrifflichkeiten haben u.a. damit zu tun, dass Teilleistungsstörungen beziehungsweise Teilleistungsschwächen bei den Schülerinnen und Schülern unterschiedlich ausgeprägt sind.

Unabhängig davon, muss, aus Sicht des VBE NRW, ein Kind, das Schwierigkeiten hat, das Rechnen zu erlernen, ebenso das Anrecht auf eine Förderung haben wie ein Kind mit einer Dyskalkulie oder einer Lese-Rechtschreibstörung.

Der VBE NRW nimmt zu den aufgeführten Forderungen im Antrag wie folgt Stellung:

  • Der VBE NRW fordert seit Jahren für den Umgang mit einer Dyskalkulie einen Erlass – parallel zum vorhandenen LRS-Erlass. Kinder mit einer Rechenstörung müssen sowohl einen Anspruch auf schulische Förderung haben, als auch ein Recht auf einen Nachteilsausgleich. Im Koalitionsvertrag der Landesregierung wurde angekündigt, diesen Nachteilsausgleich für NRW in den Blick zu nehmen. Leider ist bisher in dieser Richtung noch nichts geschehen.
  • Weiterhin fordert der VBE NRW seit Jahren, dass das Übergangsmanagement von der Kita in die Grundschule gestärkt wird. Das bedeutet für uns: Bei allen Kindern werden bei der Schulanmeldung spielerisch die Vorläuferfähigkeiten in Sprache und Mathematik diagnostiziert. Anschließend muss bis zum Schulbeginn für alle Kinder, die über Vorläuferfähigkeiten nicht verfügen eine entsprechende Förderung rechtlich implementiert werden. Das bedeutet auch, dass die nötigen finanziellen und personellen Ressourcen für Kita und Grundschule bereitgestellt werden.

Besonders im Fach Mathematik ist es wesentlich, Kinder rechtzeitig zu fördern, da mathematisches Wissen aufeinander aufbaut. Verfügt ein Kind beispielsweise nicht über das Wissen der Mengeninvarianz, hat das Auswirkungen auf seinen Prozess des Erlernens des Rechnens.

  • Es ist dringend notwendig, dass das Wissen um LRS und Dyskalkulie in der Lehrerausbildung einen wesentlichen und wichtigen Bereich einnimmt. Das sollte für alle zukünftigen Lehrkräfte gelten, die die Fächer Deutsch und Mathematik unterrichten werden. Jede Lehrkraft, die Deutsch und Mathematik unterrichtet, muss in der Lage sein, möglichst schnell Teilleistungsstörungen bei Kindern zu erkennen. Je früher Kinder die passgenaue individuelle Förderung erhalten, desto besser. Daher reicht es aus Sicht des VBE NRW nicht aus, dass in jeder Schule eine Expertin bzw. ein Experte ist. Dennoch können einzelne Expertinnen und Experten in der aktuellen Situation helfen.
  • Die Arbeit in multiprofessionellen Teams wird in den Schulen immer wichtiger. Auch diese Professionen haben einen Anspruch auf die entsprechende Fort- und Weiterbildung.
  • Es ist dringend notwendig, dass Schülerinnen und Schüler mit einer Dyskalkulie Nachteilsausgleiche gewährt werden. Die Forderung des VBE NRW geht noch weiter: Es muss Lehrkräften ermöglicht werden, Kinder, die sich in einer intensiven Phase der Förderung befinden, über einen begrenzten Zeitraum von den Klassenarbeiten zu befreien. Dieser Zeitraum sollte individuell je nach der Situation des Kindes festgelegt und mit der Schulleitung und der zuständigen Schulaufsicht abgestimmt werden.
  • Immer mehr Kinder verbringen ihre Schulzeit im Ganztag, d.h. sie betreten das Schulgebäude am frühen Morgen und verlassen es am Nachmittag. Kinder und ihre Familien benötigen freie Zeiten. Es stellt für sie eine enorme Belastung dar, wenn im Anschluss an die Schulzeit die Therapiezeit beginnt. Demzufolge sollten die Förder- und Therapiemaßnahmen, die in der Schulzeit erfolgen können, auch in dieser durchgeführt werden.
  • Die Arbeit in den multiprofessionellen Teams muss auf der einen Seite gelernt und an jeder Schule gut implementiert werden, auf der anderen Seite benötigt eine effektive Kooperation verschiedener Professionen feste Teamzeiten. Absprachen und Vereinbarungen mit dem Ziel, Schülerinnen und Schüler möglichst optimal zu fördern, funktionieren nicht „zwischen Tür und Angel“.
  • Über die genaue Organisation einer landesweiten Beratungsstelle muss in Ruhe nachgedacht werden. Ist es möglich, dem sehr großen Bedarf an Informationen und Beratung zentral von einer Stelle aus gerecht zu werden? Vielleicht ist es möglich, mit vorhandenen Institutionen (beispielsweise mit den ‚Mathematisch lerntherapeutischen Zentren‘) Kooperationen einzugehen, um Eltern und Lehrkräften ausreichend Beratungsangebote unterbreiten zu können.
  • Ein digitales Informationsangebot ist sehr zu begrüßen. Auch hier gibt es bereits Formate, die im Schulalltag helfen, beispielsweise legakids.net.
  • Wenn ein Kind unter einer massiven LRS oder Dyskalkulie leidet, dann sollte sein Anspruch auf einen Nachteilsausgleich in jeder Schulstufe umgesetzt werden.

In dem vorliegenden Antrag wird ausgesagt, dass in den Schulen in NRW die Kenntnisse über die LRS fehlen. Diese Aussage muss relativiert werden.

Der VBE NRW erhält folgende Rückmeldungen aus den Schulen:

  • Lehrkräfte weisen Eltern im Gespräch darauf hin, dass ihr Kind eine Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) hat. Vielen Eltern reicht diese Diagnose nicht, sie suchen eine Bestätigung durch ein ärztliches Attest.
  • Eltern lassen sich ein ärztliches Attest ausstellen, dass ihr Kind eine LRS hat und fordern die Umsetzung des LRS-Erlasses ein. Wenn die zuständige Lehrkraft dann begründet darlegt, dass aus ihrer Sicht keine LRS bei dem Kind vorliegt, sind die Schwierigkeiten vorprogrammiert.

Die bisherige Erlassform reicht aus, wenn alle Betroffenen gut informiert sind. Aus Sicht des VBE NRW würde die Verankerung des LRS-Erlasses im Schulgesetz keinen Einfluss auf die Praxis in den Arztpraxen und in den Schulen haben.

Der VBE NRW unterstützt den vorliegenden Antrag, verbunden mit der Hoffnung, dass sich für betroffene Schülerinnen und Schüler, ihre Eltern und beteiligte Lehrkräfte einerseits die rechtliche Situation klärt und andererseits die Diagnose- und Fördermöglichkeiten in den Schulen gestärkt und ausgebaut werden.

Dortmund,15.09.2023

Anne Deimel                                                              Stefan Behlau

Landesvorsitzende VBE NRW                              Landesvorsitzender VBE NRW

Mitglied
werden