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Was die Schülergarderobe mit Demokratie zu tun hat

Ein Beitrag von Sebastian Potschka


Als Bundespräsident Frank Walter Steinmeier am 12. Mai 2016 in Berlin beim WDR Europa Forum zum Thema „Europa zusammenhalten“ sprach, definierte er den Kern unseres Zusammenlebens: „Demokratie heißt immer: die Bereitschaft, nicht nur eigene Interessen zu sehen, und die Fähigkeit zum Ausgleich und zum Kompromiss.“

Damit stellte er implizit fest: Demokratie muss man lernen und bedeutet Arbeit. Deshalb findet sich der Auftrag zu Erziehung zu Demokratie, Freiheit und im Geist der Menschlichkeit im Schulgesetz NRW bereits an prominenter, zweiter Stelle (vgl. § 2 Abs. 2 Satz 2 SchulG NRW). Aber wie kann diese Erziehung zu Demokratie und Demokratiebildung praktisch aussehen und auch noch gelingen? Wo setzt man an, wenn man als Lehrkraft Schülerinnen und Schülern der vor allem auf sich und den eigenen Vorteil fokussierten Generation Alpha vermitteln darf, soll und muss, dass Demokratie oft mühsame Absprache und Kompromissbereitschaft bedeutet?

Die Theorie ist in den Kern- und schulinternen Lehrplänen zahlreicher Fächer fest verankert. Die praktische Anwendung demokratischer Prozesse und handlungsbasiertes, jahrgangstufenübergreifendes Lernen kann prädestiniert über die Arbeit in und mit der oft unterschätzten Schülervertretung in der Schule eingeübt, erfahren und gelebt werden. Hierzu hat der Gesetzgeber mit der Erstauflage des Schulgesetzes NRW 2005 weitreichende und umfassende Möglichkeiten für die SV in § 74 eröffnet und geregelt.

Bis dahin war es ein weiter Weg. Die Mitbestimmung von Schülerinnen und Schülern in Deutschland hat ihre Wiege ausgerechnet an einem Ort, der von demokratischen Grundsätzen nicht weiter entfernt stehen könnte.

Im Konzentrationslager Buchenwald, Tatort von 56.000 Morden, Folter und Entmenschlichung wurde die Forderung nach einer „Schülerselbstverwaltung“ in einem demokratischen Deutschland zum ersten Mal von den politischen Gefangenen rund um den SPD-Politiker und Widerstandskämpfer Heinrich Brill im Oktober 1944 manifestiert. Neben der Entlassung aller ideologisch vorbelasteter Lehrkräfte forderten sie die Zulassung von einer Schülerselbstverwaltungen und Elternbeiräten. Es sollte noch bis zum 19. April 1952 dauern, bis aus demokratischer Vorstellung Gesetz wurde. An letzter Stelle, versehen mit dem Buchstaben „f“, wurde Schülern im Ersten Gesetz zur Ordnung des Schulwesens des Landes Nordrhein-Westfalen in § 10 Abs. 2 das Recht zur Teilnahme an der sogenannten Schulgemeindeversammlung eingeräumt. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass Schüler über 16 Jahren die Schule besuchen.


25 Jahre später veröffentlichte Hans-Georg Wehling seine Aufzeichnungen eines Treffens von Politikdidaktikern, die bis heute Basis von Unterrichtsgestaltung und Schulleben sind. Im dritten Satz des Beutelsbacher Konsens heißt es: „Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen (…)” (Wehling, 1977: S. 179 f.).

In der 1992 erstmals veröffentlichten „Ladder of Participation“ fächerte Roger Hart im 4. UNICEF-Bericht zu „Children’s Participation“ dann konkret acht Niveaustufen der Beteiligungsform von Kindern und Jugendlichen auf (Hart, 1992: S. 10): Von der Fremdbestimmung und Alibi-Teilnahmen an Veranstaltung über Teilhabe, Mitwirkung und wahre Mitbestimmung bis hin zur Selbstverwaltung kategorisiert Hart klar, was unter Partizipation von Kindern und Jugendlichen zu verstehen ist und was eben nicht. Die Schülervertretung kann, bleibt man in Harts Stufensystem, dabei zumindest in Teilbereichen auf allen Niveaus
agieren, je nach dem wie aktiv und lebendig sie aufgestellt ist: Werden die gewählten Vertreter der Schüler im Vorfeld einer Schul- oder Teilkonferenz zwar eingeladen, aber nicht in die Tagesordnung eingewiesen, bleibt die SV nur „Dekoration“.

Wurden die Programmpunkte jedoch im Vorfeld eingehend mit der Schülervertretung besprochen, diskutiert, ein Meinungsbild im Schülerrat zu den Themen eingeholt und weist die Einladung vielleicht auch noch Tagesordnungspunkte auf, die auf Anträgen der SV selbst basieren, wird der Grad der Partizipation auf die zweithöchste Stufe „Mitbestimmung von Kindern initiiert und geleitet“ katapultiert. Und selbst der höchste Grad „Selbstverwaltung“ kann tatsächlich auch in der Arbeit der Schülervertretung erreicht werden, beispielsweise in der Übernahme von Pausen- oder Toilettenaufsichten, einem organisierten Kuchenverkauf für die Abschlusskasse oder die Organisation eines Aufenthaltsraums in der Schule.

Der SV-Verbindungslehrkraft kommt hierbei eine besondere Schlüsselposition zu. Sie berät nicht nur den Schülerrat, sondern ist auch das Bindeglied zwischen Kollegium, Schulleitung und Schülerschaft. Sie schafft und zeigt Rahmenbedingungen auf, weiß um die rechtlichen Möglichkeiten und Grenzen und unterstützt bei der Einordnung und Kommunikation.

Dabei ist bemerkenswert, dass der Gesetzgeber die Schülervertretung im Schulgesetz und dem ergänzenden SV-Erlass (BASS 17-51 Nr. 1) bereits 1979 mit weitreichenden Möglichkeiten und Rechten ausgestattet hat, die anderen am Schulleben beteiligten Personen und Gremien nur eingeschränkt gestattet werden oder gar versagt bleiben.

So darf die Schülervertretung einmal im Monat eine SV-Stunde während der Unterrichtszeit abhalten, zweimal im Schuljahr eine Schulversammlung veranstalten, öffentliche Erklärungen abgeben, Beschwerden entgegennehmen und bearbeiten oder auch eine eigene Kasse führen und Spenden annehmen.
Aber wie geht es denn jetzt konkret? Wie kann man Schüler für eine lebendige und aktive Schülervertretung gewinnen? Ein Beispiel auf dem Schulalltag:
An einer Schule gibt es unter anderem die Regel, dass Jacken im Unterrichtsraum nicht getragen werden dürfen. Sie müssen während des Unterrichts draußen auf dem Schulflur an der Garderobe hängen.

In der Klasse 9b kommt es an einem kalten Wintermorgen wieder mal zu einer Diskussion zwischen der Klassenlehrerin und einem Schüler, der den Sinn der Regel infrage stellt.

Nach Wiederholung der üblichen Argumente (Unhöflichkeit, erhöhte Luftfeuchtigkeit im Raum bei nassen Jacken etc.) beendet die Lehrkraft die Diskussion mit der Aussage: „Und außerdem hat die Schulkonferenz das so beschlossen.“
Der Schüler sieht seine Gelegenheit zur Entkräftung der Vorrede gekommen und kontert: „Mich hat keiner gefragt.“
Die Kollegin knüpft sofort daran an und erwidert, dass er sich über die Klassensprecher oder direkt an die Schülervertretung mit einem Antrag wenden könne, dass Jacken im Unterrichtsraum gestattet werden sollen.
Nach zwei interessierten Nachfragen der Klassenlehrerin und mithilfe der Aufmerksamkeit der Klassensprecher, die ihm ein SV-Ideenformular hinlegen, schreibt der Schüler schließlich seinen Vorschlag auf: Jacken sollen im Klassenraum erlaubt werden.

Bei der nächsten SV-Sitzung wird den Mitgliedern des Schülerrates nach anfänglicher, breiter Unterstützung nach Erläuterung der Genese dieser Regel durch die SV-Verbindungslehrkraft schnell deutlich, dass es wenige Argumente für eine Abschaffung des Jackenverbots im Klassenraum gibt und Gemütlichkeit wohl nicht überzeugend genug ist.
Da meldet sich die Klassensprecherin der 8a und berichtet von einem aus ihrer Jacke auf dem Flur entwendeten Handy. Das Mobiltelefon sei bis heute nicht mehr aufgetaucht und auch nicht ersetzt worden. Ihre Mutter habe auf Nachfrage im Sekretariat erfahren, dass es keine Garderobenversicherung gebe.
Die Schülersprecherin notiert sofort, dass die Jacken auf dem Flur ein Diebstahlrisiko darstellen und zwar auch für die Jacken selbst, selbst wenn gar keine Wertgegenstände in ihnen aufbewahrt werden.

Bei der anschließenden Abstimmung erhält der Antrag an die Schulkonferenz zur Aufhebung des Jackenverbots Einstimmigkeit und fällt dennoch einige Wochen später bei der Abstimmung in der Schulkonferenz nach ausführlicher Diskussion durch. Lehrkräfte und die Mehrheit der Elternvertretung waren nicht
überzeugt. Aber mit der fehlenden Garderobenversicherung wird sich im Nachgang weiter beschäftigt.
Das Argument hatte verfangen. Auf Nachfrage bei verschiedenen Versicherungen erfährt die Schülersprecherin, dass nur der Schulträger eine solche Versicherung abschließen kann. Nach einem von der Schülersprecherin initiierten Treffen zwischen Schulverwaltungsamt, Schulleitung, Schulpflegschaftsvorsitzendem und der SV gibt es schließlich eine Lösung: Der Schulträger schließt eine Garderobenversicherung ab.

An diesem Praxisbeispiel werden die Chancen, aber auch die Schwächen von Demokratie und ihrer Erziehung deutlich. Der Schüler, der die Regel zu Beginn infrage gestellt hatte, hat auf seine Nachfrage keine für ihn befriedigende Antwort erhalten und sein Antrag wurde erst viele Wochen nach seiner Initiative in der Schulkonferenz abgestimmt und dann auch noch mit einer Ablehnung. Aber er und alle anderen Schülerinnen und Schüler haben über seinen Antrag demokratische Prozesse aktiv erlebt, selbst gesteuert, argumentiert und letztlich eine am eigentlich Problem orientierte Lösung erreicht.

Mehr Beispiele für gelungene Arbeit der Schülervertretung, Erläuterung rechtliche Rahmenbedingungen, konkrete Handreichungen und viel Raum für Nachfragen und Tipps für gewählte, angehende oder interessierte (SV-Verbindungs-)Lehrkräfte gibt es beim Online-Seminar „Demokratieerziehung durch erfolgreiche Arbeit in der Schülervertretung“ am 11. September 2025 von 14:30 Uhr bis 17:00 Uhr.



Zum Autor

Sebastian Potschka ist 42 Jahre alt und Lehrer für Deutsch, Geschichte, Praktische Philosophie und Sozialwissenschaften an einer Realschule im Regierungsbezirk Düsseldorf. Seit zehn Jahren ist er SV-Verbindungslehrer an seiner Schule und Geschäftsführer des Netzwerks der Schülervertretungen im Bereich des Schulträgers. Er hält regelmäßig Vorträge und Workshops zu Demokratieerziehung und befindet sich in der Ausbildung zum Rechtsreferenten.


Online-Seminar zum Thema

Sebastian Potschka ist Referent für das VBE-Bildungswerk.
Hier können Sie sich zu folgender Veranstaltung anmelden:

OS1 Demokratierziehung durch erfolgreiche Arbeit in der Schülervertretung
11. September 2025, 14:30–17:00 Uhr.



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