Wenn Kinder im schulischen Alltag herausforderndes Verhalten zeigen, geraten nicht nur Lehrkräfte, sondern auch Eltern schnell an ihre Grenzen. Raphael Kirsch, Deeskalationstrainer, systemischer Coach und Experte für Krisen- und Konfliktpädagogik, weiß aus langjähriger Praxis: Gute Zusammenarbeit mit Eltern ist der Schlüssel, um schwierige Situationen zu meistern. Im Interview erklärt er, warum Authentizität und Professionalität keine Gegensätze sind, welche Elterntypen Lehrkräfte kennen sollten – und warum kleine Veränderungen oft den größten Unterschied machen.
Raphael, was hat dich dazu bewogen, dich auf das Thema Deeskalation und Konfliktpädagogik zu spezialisieren?

Das entstand aus meiner pädagogischen Praxis. Nach dem Zivildienst arbeitete ich in einer geschlossenen Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dort wird man täglich mit extremen Verhaltensweisen konfrontiert – Selbstverletzung, spaltende Tendenzen, Persönlichkeitsstörungen. In meiner Ausbildung kam so etwas gar nicht vor. Das Wissen eignete ich mir im Alltag an. Später fragte meine Frau, Grundschullehrerin, regelmäßig um Rat bei herausfordernden Situationen. Ihre Schulleitung merkte schnell, dass unsere Tipps funktionierten. Daraus entstand meine erste kleine Fortbildung – heute sind es über 400 Seminartage pro Jahr, die mein Team und ich absolvieren. Man könnte sagen: Was ich damals in der Psychiatrie gelernt habe, war wie der Sprung ins kalte Wasser – aber danach konnte ich schwimmen. Diese Erfahrung hat meine pädagogische Sichtweise für immer geprägt.
In deinem Seminar sprichst du über herausforderndes Verhalten. Welche Rolle spielt dabei die Elternarbeit?

Eine zentrale. Viele Verhaltensweisen von Kindern sind Symptome familiärer Herausforderungen – fehlende Stabilität, Sicherheit oder Wertschätzung. Die meisten Eltern meinen es gut, aber es gibt auch einen kleinen Prozentsatz, der überfordert ist oder sich verweigert. Diese Realitäten muss man anerkennen, ohne sie zu verurteilen. Ich sage manchmal augenzwinkernd: Viele Kinder sind erst einmal nur die Symptome ihrer Eltern. Natürlich nicht sie als Menschen, sondern ihre Verhaltensweisen. Wenn einem Kind Sicherheit fehlt, wird es oft auffällig – und das müssen wir verstehen.
Welche Dynamiken führen dazu, dass Eltern kooperativ oder konfrontativ reagieren?

Eltern bringen ihre eigene Sozialisation mit. Negative Schulerfahrungen oder Sprachbarrieren spielen eine Rolle. Manche Eltern glauben auch, Schule solle die komplette Erziehung übernehmen. Wichtig ist ein Realitätsabgleich: Haben wir dieselben Erwartungen und arbeiten wir am selben Ziel? Oft prallen da zwei Welten aufeinander. Für uns ist Schule Alltag, für Eltern oft ein Problemfeld voller Emotionen. Da hilft es, nicht mit dem Zeigefinger zu kommen, sondern mit einem Angebot zur Zusammenarbeit.
Wie gelingt der konstruktive Dialog mit schwierigen Eltern?

Man sollte immer die Erwartungen beider Seiten klären. Und: Authentizität ist wichtig, aber Professionalität noch mehr. In Konflikten müssen wir oft professionell handeln, auch wenn unser „authentisches Ich“ vielleicht gern auf Konfrontation gehen würde. Wenn Eltern laut werden, bedanke ich mich erst mal für ihre Offenheit und lenke dann das Gespräch auf Lösungen. Ein Bild, das ich gern nutze: Authentizität ist wie das Lieblingspaar Turnschuhe – bequem, aber nicht immer passend. Manchmal brauchen wir den Anzug der Professionalität, um das Gespräch in die richtigen Bahnen zu lenken.
Gibt es typische Eskalationsmuster in Elterngesprächen?

Eskalationen entstehen meist durch ungeklärte Erwartungen. Wer vorher Ziele und Möglichkeiten transparent macht, verhindert viele Konflikte. Auch das Missverständnis zwischen Verständnis zeigen und Einverständnis haben führt oft zu Problemen. Ich kann Eltern sagen: „Ich verstehe Ihre Sichtweise, gleichzeitig bin ich anderer Meinung.“ Zudem arbeiten wir in unseren Seminaren mit verschiedenen Elterntypen, die wir als Comicfiguren darstellen. Das soll nicht stigmatisieren, sondern Lehrkräften helfen, typische Verhaltensmuster schneller zu erkennen – etwa den „Helikoptereltern“- Typ oder Eltern, die sehr wenig Verantwortung übernehmen. Diese Typen sind wie Wegweiser: Wenn ich weiß, mit welchem Typ ich es zu tun habe, kann ich meine Kommunikation gezielter steuern.
Welche praxiserprobten Techniken empfiehlst du für schwierige Elterngespräche?

• Erwartungen klar und frühzeitig benennen. • Bei der eigenen Anforderung bleiben, wertschätzende Klarheit und Konstanz sind sehr hilfreich. • Verständnis zeigen, ohne die eigene Position aufzugeben. • Realitätsabgleich: Können Eltern leisten, was ich erwarte? In unseren Seminaren kombinieren wir wissenschaftliche Grundlagen mit Praxis und Persönlichkeitsarbeit. Es gibt viele kleine Aha-Momente, die zeigen: Oft sind es keine großen Veränderungen, sondern klitzekleine Umstellungen, die im Alltag viel bewirken.
Welche Haltung sollten Lehrkräfte aus deiner Sicht gegenüber schwierigen Situationen entwickeln?

Selbstreflexion ist essenziell: Wie reagiere ich in Konflikten? Bin ich vielleicht Teil des Problems? Dazu gehört auch, Fehler zuzulassen und lösungsorientiert zu arbeiten. Beziehungsarbeit darf kein „Zusatz“ sein, sondern sollte selbstverständlich aus der eigenen Persönlichkeit entstehen. Ich rate Lehrkräften oft: Wenn ein Kollege mit einem Kind oder Elternteil keine Probleme hat, ich aber schon – könnte es sein, dass ich Teil des Konflikts bin? Diese Haltung ist herausfordernd, aber sie öffnet Türen.
Was müsste sich deiner Meinung nach in der Lehrerausbildung ändern?

Es fehlt an Persönlichkeitsarbeit, Konfliktmanagement und praktischer Erfahrung. Lehrkräfte sollten früh erkennen, ob sie für diesen Beruf geeignet sind – nicht erst nach dem Studium. Wir bieten daher Seminare, Fortbildungen und sogar eine eigene Ausbildung an, die Lehrkräften auf spannende, kurzweilige und humorvolle Art das Know How für ihren Alltag mitgibt, das im Studium vielleicht gefehlt hat. Alles praxisnah und sofort umsetzbar. Nicht wenige schauen auf einige unserer Ideen aus dem Seminar zunächst etwas skeptisch, weil es anders ist als das, was sie die letzten Jahre gemacht haben und weil es vielleicht stellenweise zu einfach klingt. Die meisten sind positiv überrascht, wieviel einfacher der nächste Schultag ist.
Mehr Infos zu Raphael Kirsch gibt es auf: raphaelkirsch.com
Starke Bildung. Starke Menschen.