Interview mit Mehtap Suvaroğlu, HSU-Lehrkraft und Co-Vorsitzende im NRW-TÖB
Der herkunftssprachliche Unterricht (HSU) spielt eine entscheidende Rolle in der sprachlichen und kulturellen Bildung vieler Schülerinnen und Schüler in Nordrhein-Westfalen. Trotz seiner Bedeutung stehen HSU-Lehrkräfte oft vor großen Herausforderungen – sei es in Bezug auf Anerkennung, Arbeitsbedingungen oder die institutionelle Förderung dieses Angebots. Im Interview sprechen wir mit Mehtap Suvaroğlu, HSU-Lehrkraft und Co-Vorsitzende im NRW-TÖB, über ihre Erfahrungen, die aktuelle Situation des herkunftssprachlichen Unterrichts in NRW und darüber, welche Maßnahmen notwendig wären, um diesen wichtigen Bereich der Bildung weiter zu stärken.
Wie sehen Sie die Bedeutung der Mehrsprachigkeit in einer zunehmend globalisierten Welt, insbesondere in einer multikulturellen Gesellschaft wie NRW?
Mehrsprachigkeit ist für mich eine der wertvollsten Fähigkeiten, die ein Mensch in einer globalisierten Welt besitzen bzw. entwickeln kann. In einer multikulturellen Gesellschaft wie NRW, in der viele Kinder eine internationale Familiengeschichte haben, ist Mehrsprachigkeit ein natürlicher Bestandteil des Alltags. In der Grundschule bei mittlerweile fast 50 % der Schüler/-innen. Genau das macht unser Bundesland so besonders. Ich glaube fest daran, dass Mehrsprachigkeit mehr ist als nur das Beherrschen mehrerer Sprachen. Gerade in NRW, wo Menschen aus den verschiedensten Teilen der Welt zusammenleben, bietet Mehrsprachigkeit die Chance, unsere Vielfalt als Stärke zu nutzen. Doch ich sehe auch, dass Mehrsprachigkeit nicht wertgeschätzt wird. Viele betrachten sie nur als praktisches Werkzeug für den Beruf oder für das Reisen. Dabei ist sie viel mehr als das: Sie ist ein Schlüssel zur Förderung von Empathie, interkultureller Kompetenz und globalem Denken. Wenn wir es schaffen, Mehrsprachigkeit konsequent zu fördern und sie als festen Bestandteil unseres Bildungssystems zu verankern, können wir die Potenziale unserer Kinder und Jugendlichen in einer Weise entfalten, die nicht nur ihnen, sondern auch unserer Gesellschaft als Ganzes zugutekommt.
Welche Herausforderungen gibt es bei der Förderung der Mehrsprachigkeit in der Schule?
Die Förderung der Mehrsprachigkeit in Schulen ist leider mit einer Reihe von Hindernissen verbunden. Eine der größten Herausforderungen ist die mangelnde strukturelle Verankerung von Mehrsprachigkeit im Bildungssystem. Herkunftssprachlicher Unterricht (HSU), was einen großen Beitrag für die Förderung der Mehrsprachigkeit leistet, wird oft als freiwillige Zusatzoption angeboten. Sie findet nachmittags statt und wird somit weder als reguläres Fach wahrgenommen noch von allen Schülern erreicht. Es ist enttäuschend zu sehen, dass nur 15 bis 20 % der Kinder, die von HSU profitieren könnten, tatsächlich daran teilnehmen. Ein weiteres Problem ist die fehlende Anerkennung von Mehrsprachigkeit als Bildungsziel. Obwohl Studien zeigen, dass Kinder, die in ihrer Herkunftssprache gefördert werden, auch in der deutschen Sprache bessere Fortschritte machen, wird dies in der Praxis oft ignoriert. Es gibt immer noch Vorurteile, die Mehrsprachigkeit als Belastung statt als Bereicherung betrachten. Solche Denkmuster spiegeln sich leider auch in der Gestaltung von Lehrplänen und Schulstrukturen wider. Hinzu kommt, dass Lehrkräfte oft nicht ausreichend geschult sind, um Mehrsprachigkeit im Unterricht effektiv zu fördern. Es fehlen Fortbildungen, Materialien und Konzepte, die interkulturelle und mehrsprachige Kompetenzen gezielt in den Fokus rücken. Außerdem sehe ich, dass Eltern nicht immer ausreichend informiert sind, welche Angebote es gibt und wie wichtig Mehrsprachigkeit für die Entwicklung ihrer Kinder ist. Hier braucht es stärkere Informationskampagnen und mehr Aufklärung. Ein weiteres Hindernis ist die Organisation des HSU. Die Gruppenbildung ist mit hohen Mindestzahlen verbunden, was dazu führt, dass viele Lerngruppen gar nicht erst zustande kommen. Im Primarbereich liegt diese Mindestanzahl bei 15 Schüler/-innen, während sie in der Sekundarstufe I bei 18 liegt. Die Kinder, die am HSU teilnehmen, müssen oft erhebliche Zusatzbelastungen in Kauf nehmen, da der Unterricht häufig außerhalb der regulären Schulzeit stattfindet. All dies zeigt, wie dringend ein Umdenken und eine Neustrukturierung der Mehrsprachigkeitsförderung erforderlich sind.
Welche besonderen Herausforderungen erleben HSU-Lehrkräfte in NRW im Vergleich zu „regulären“ Lehrkräften?
HSU-Lehrkräfte sind nach TV-L § 44 und Schulgesetz § 57 Lehrkräfte des Landes. Sie stehen jedoch vor ganz besonderen Herausforderungen, die ihre Arbeit oft stark erschweren. Zum einen sind sie häufig an mehreren Schulen tätig. Im Durchschnitt sind es drei bis fünf Ein-satzschulen. Dies führt nicht nur zu einer enormen physischen und psychischen Belastung, sondern erschwert auch die Integration in das Kollegium. Sie haben selten die Gelegenheit, sich aktiv an schulischen Teamsitzungen oder Planungsprozessen zu beteiligen, was dazu führt, dass sie sich oft isoliert fühlen. Auch kann die Schule nicht von dieser wichtigen Expertise profitieren. Zudem sind die organisatorischen Anforderungen enorm. HSU-Lehrkräfte müssen nicht nur ihren Unterricht planen und durchführen, sondern auch mit mehreren Schulleitungen, Eltern und Kollegen koordinieren. Sie agieren häufig wie Schulsozialarbeiter oder Sozialpädagogen, da sie eine wichtige Brücke zwischen Eltern, Schüler:innen und Schulen bilden. Der zusätzliche Aufwand, der mit Fahrten zwischen den Schulen verbunden ist, wird oft nicht ausreichend berücksichtigt. Auch die Tatsache, dass sie häufig am Nachmittag oder sogar abends unterrichten, erschwert ihre Arbeitsbedingungen erheblich. Ein weiteres Problem ist die fehlende Anerkennung ihrer Arbeit. Viele HSU-Lehrkräfte sind hoch qualifiziert und verfügen über eine Lehrbefähigung aus ihrem Herkunftsland. Hier fordern wir seit Jahren eine entsprechende Entlastung. Dennoch werden ihre Abschlüsse oft nicht vollständig anerkannt, und sie arbeiten zu Bedingungen, die nicht den Standards ihrer Qualifikationen entsprechen. Ihr Besoldung ist deutlich niedriger als die ihrer Kolleginnen und Kollegen im regulären Schuldienst. Ich bin ebenfalls eine dieser Lehrkräfte. In Deutschland geboren und aufgewachsen, habe ich hier meinen Schulabschluss gemacht. Den-noch entschied ich mich bewusst dafür, mein Studium in Istanbul an der Fakultät für Bildungswissenschaften mit Schwerpunkt Deutsch zu absolvieren. Dort sammelte ich wertvolle Erfahrungen und arbeitete viele Jahre an einer österreichisch orientierten Stiftungsschule. Meine Hauptaufgabe war es, die deutsche Sprache und Kultur zu vermitteln, ein Bereich, der mir immer besonders am Herzen lag. Darüber hinaus war ich für die Koordination von Lehrkräften zuständig, die in Intensivklassen Seiteneinsteiger-Schüler/-innen unterrichteten. Meine Aufgabe bestand darin, Wochenpläne für sie zu erstellen, die einen reibungslosen und effektiven Unterricht gewährleisteten. Die-se Verantwortung hat mich nicht nur fachlich bereichert, sondern auch meine organisatorischen Fähigkeiten gestärkt. Doch meine Rückkehr nach Deutschland war, trotz aller Vorfreude, eine demotivierende Erfahrung. Anstatt in regulären Klassen Deutsch zu unterrichten, durfte ich lediglich im HSU Türkisch unterrichten. Es ist frustrierend, das eigene Potenzial und die eigenen Kompetenzen nicht voll ausschöpfen zu können. Dennoch bleibe ich optimistisch. Kurz gesagt fordern wir bessere Arbeitsbedingungen, angemessene Entlastungen und eine gerechte Bezahlung für HSU-Lehrkräfte.
Welche strukturellen Verbesserungen wären aus Ihrer Sicht notwendig, um die Situation der HSU-Lehrkräfte und den herkunftssprachlichen Unterricht in NRW zu stärken?
Um die Situation der HSU-Lehrkräfte und des HSU insgesamt zu verbessern, sind tiefgreifende strukturelle Reformen not-wendig. Obwohl es in NRW HSU für 30 Sprachen gibt, ein weltweit wohl einmaliges Ange-bot, bestehen dennoch viele Defizite. Zunächst einmal muss HSU als gleichwertiges, reguläres Fach anerkannt werden, nicht nur als freiwillige Zusatzoption. Dies würde dazu bei-tragen, die Bedeutung von Mehrsprachigkeit zu unterstreichen und den HSU stärker in den schulischen Alltag zu integrieren. Ein weiterer Schritt wäre die Senkung der Mindestanzahl von Schülerinnen und Schülern, die für die Bildung einer HSU-Gruppe erforderlich sind, auf zwölf, wie bei allen anderen freiwilligen Angeboten, wie z. B. dem Religionsunterricht. Dadurch könnten mehr Gruppen zustande kommen und das Angebot wäre für eine größere Anzahl von Kindern zugänglich. Die Arbeitsbedingungen der HSU-Lehrkräfte müssen dringend verbessert werden. Dazu gehört eine faire und angemessene Bezahlung, nämlich die Anpassung der Besoldung an die Besoldungsgruppe A13/EG13. Langfristig sollte auch die Anerkennung ausländischer Lehramtsabschlüsse erleichtert werden, um qualifizierte Fachkräfte besser in das Schulsystem zu integrieren. Außerdem sollten sie an weniger Schulen ein-gesetzt werden, idealerweise nur an einer, um ihre Arbeitsbelastung zu reduzieren und ihre Integration in das Kollegium zu erleichtern. Ein wichtiger Punkt ist auch die Anerkennung ausländischer Lehramtsabschlüsse. Die Hürden für qualifizierte Lehrkräfte, die aus dem Ausland kommen, müssen gesenkt werden. Gleichzeitig sollten berufsbegleitende Angebote, Fortbildungsprogramme angeboten werden, um mögliche Unterschiede in der Ausbildung auszugleichen. In Zeiten des Lehrkräftemangels sind die HSU-Lehrkräfte eine ungenutzte Chance. Viele dieser Lehrkräfte, die die entsprechenden Voraussetzungen erfüllen, könnten unbürokratisch für andere Fächer eingesetzt werden, die sie in ihrem Herkunftsland studiert haben. Wir als NRW-TÖB haben dem MSB bereits mehrfach solche Vorschläge mit konkreten Konzepten unterbreitet, jedoch wurden diese leider nur teil-weise umgesetzt. Es ist jedoch begrüßenswert, dass HSU-Lehrkräfte, die die Voraussetzungen erfüllen, nun auch OBAS absolvieren dürfen.
Welche Erfolge erleben Sie in Ihrer Arbeit, die Sie besonders motivieren?
Es gibt viele Momente, die mir in meiner Arbeit Kraft und Motivation schenkt. Es ist besonders bereichernd zu erleben, wie Kin-der durch den HSU ihre Herkunftssprache und kulturelle Identität stärken können, während sie gleichzeitig ihre Deutschkenntnisse erweitern. Die Rückmeldungen von Eltern, die berichten, dass ihre Kinder durch den HSU selbstbewusster und offener werden, motivieren mich immer wieder. Es ist schön zu sehen, wie diese Kinder sich in ihrer sprachlichen und kulturellen Vielfalt als wertvoller Teil unserer Gesellschaft wahrnehmen und entwickeln können. Was mir persönlich jedoch eine ganz besondere Freude bereitet, ist die Möglichkeit, Kinder in ihrem Selbstbild positiv zu bestärken. Manche Kinder können das Gefühl haben, dass ihre Muttersprache oder ihr kultureller Hintergrund sie von anderen unterscheidet. Ihnen zu zeigen, dass dies kein Hindernis, sondern eine wertvolle Bereicherung ist, liegt mir besonders am Herzen. Wenn ich sehe, wie ein Kind durch solche Botschaften neues Selbstvertrauen entwickelt, er-füllt mich das mit großer Zufriedenheit. Denn ich bin für diese Kinder nicht nur eine Lehr-kraft, sondern auch Vorbild. Ich kenne den Weg, den sie gehen, aus eigener Erfahrung und weiß, wie wichtig es ist, in der eigenen Identität bestärkt zu werden. Das schafft eine Verbindung, die über den Unterricht hinausgeht und den Kindern zeigt, dass sie mit ihren Fähigkeiten und ihrem Hintergrund wertvoll sind.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft des HSU und für die Mehrsprachigkeitsförderung in NRW?
Für die Zukunft wünsche ich mir mehr Förderung der Mehrsprachigkeit und dass der herkunftssprachliche Unterricht (HSU) einen festen und sichtbaren Platz im Bildungssystem von NRW erhält. Er sollte nicht länger als zusätzliches Angebot wahrgenommen werden, sondern als ein essenzieller Bestandteil der Bildung, der die sprachliche und kulturelle Vielfalt unserer Gesellschaft reflektiert und stärkt. Mein Wunsch ist es, dass alle Kinder, unabhängig von ihrer Herkunft, die Möglichkeit erhalten, ihre Muttersprache zu lernen und weiterzuentwickeln, ohne dass sie das Gefühl haben, sich zwischen ihrer Herkunft und ihrer schulischen Bildung entscheiden zu müssen.
NRW-TÖB
Der Verband der Lehrer/-innen aus der Türkei in NRW (NRW-TÖB) ist die Interessenvertretung der in Nordrhein-Westfalen tätigen Lehrkräfte für Herkunftssprachlichen Unterricht (HSU) sowie anderer mehrsprachiger Lehrkräfte und Pädagoginnen und Pädagogen. Der Verband setzt sich besonders für das Erlernen der Muttersprache und die Förderung der Mehrsprachigkeit ein. Er arbeitet auf Landesebene und engagiert sich für eine gleichberechtigte Bildungspolitik.
Mehtap Suvaroğlu ist seit Februar 2025 gemeinsam mit Zülfü Gürbüz Co-Vorsitzende des NRW-TÖB. Gürbüz war bereits zu Gast bei einer Landesvorstandsitzung des VBE NRW und sprach über die Situationder HSU-Lehrkräfte.