VBE: Dramatischer Leistungsabfall durch fehlende Lehrkräfte – gesellschaftliche Folgen noch nicht absehbar
Die IGLU-Daten spiegeln deutlich wider, wie sehr an den Schulen ausgebildete Lehrkräfte fehlen. Zu viele Kinder können keine ausreichende Lesekompetenz erwerben. Sie verfügen weder über die notwendige Leseflüssigkeit noch über das Leseverständnis. Beide Kompetenzen sind grundlegend für die gesamte Lern- und Leistungsentwicklung und das Aneignen von Kenntnissen und Wissen in allen Fachbereichen. Und dennoch bleibt der große gesellschaftliche Aufschrei aus. In unserer gesamten Gesellschaft bekommt das Lesen nicht die Aufmerksamkeit, die ihm zustehen müsste. Vielen Eltern fehlt die Zeit, ihren Kindern vorzulesen. In den sozialen Medien sind Bilder oft wichtiger als Texte, Sprachnachrichten bedürfen keiner Lesefähigkeiten. Im Alltag vieler Familien können wichtige Basiskompetenzen nicht mehr vermittelt werden. Sie brauchen dringend Informationen und Unterstützung, erklärt
Anne Deimel, Vorsitzende des VBE NRW,
anlässlich der heutigen Sondersitzung des Schulausschusses zur aktuellen IGLU-Studie und dem IQB-Bildungstrend 2021.
Austausch mit der Praxis notwendig
Im Rahmen der „Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung“ (IGLU 2021) wurde die Lesekompetenz von Grundschulkindern im internationalen Vergleich und im Trend über 20 Jahre untersucht. Im Vergleich zum Jahr 2001 ist die durchschnittliche Lesekompetenz in Deutschland gesunken, während die Leistungsstreuung zugenommen hat.
„Die Lesekompetenz ist elementar wichtig für die gesamte Bildungslaufbahn und Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes. Um allen Kindern den Erwerb der Lesekompetenz zu ermöglichen, ist eine durchgehende individuelle Förderung notwendig. Dafür werden an den Schulen ausgebildete Fachkräfte benötigt. Aktuell sind viele Klassen zu groß, die Heterogenität in den Lerngruppen bringt die Lehrkräfte an ihre Belastungsgrenze. Wenn das Ministerium für Schule und Bildung nun die Grundschulen zu festen Lesezeiten verpflichtet, zeigt das, wie groß die Not bei den Verantwortlichen ist, ad hoc auf die Missstände reagieren zu müssen. Es bleibt offenbar keine Zeit, genau hinzuschauen, was an den Grundschulen in NRW geleistet wird und welche Lesekonzepte vor Ort bereits umgesetzt werden.“
Schulministerium kündigte verpflichtende Lesezeit an
Das Schulministerium reagierte mit der Ankündigung, ab dem kommenden Schuljahr verpflichtende Lesezeiten an Grundschulen einzuführen. Drei 20-minütige Lesezeiten pro Woche sollen dabei helfen, die Lesekompetenzen zu stärken.
Es spricht nichts dagegen, den Schulen Materialien zum Erlernen der Lesekompetenz an die Hand zu geben und die Personen, die in den Klassen das Fach Deutsch unterrichten, ohne ein Lehramtsstudium absolviert zu haben, zu qualifizieren. Nicht zielführend ist es, alle Grundschulen zu einem Einheitsweg zu verpflichten. Jedes Kind an jeder Grundschule in NRW ist anders und benötigt Unterstützung auf seinem individuellen Weg zum Lesenlernen. Erfolgversprechend kann nur sein, alle Beteiligten in den Grundschulen mitzunehmen, ihre vorhandenen Lesekonzepten anzuerkennen und weiterführende Vorschläge zu unterbreiten.
Anne Deimel
Gemeinsame Aufgabe aller an Bildung beteiligten Personen
Das Erwerben von Kompetenzen findet während des gesamten Bildungsweges von Kindern und Jugendlichen statt. Die Basisfähigkeiten werden in der frühkindlichen Bildung grundgelegt. Die Vertiefung der erworbenen Lesekompetenzen sind auf eine Vertiefung in den weiterführenden Schulen angewiesen.
Maßnahmen zur Förderung der Lesekompetenzen betreffen nicht allein die Grundschulen. Einerseits sollten die Kitas bei der frühkindlichen Bildung unterstützt werden. Auf der anderen Seite sollte die Landesregierung auch den weiterführenden Schulen Materialien zur Unterstützung der Vertiefung der Lesekompetenz zur Verfügung stellen. In der aktuellen schwierigen Situation durch den akuten Fachkräftemangel ist eine gemeinsame Verantwortung aller an der Bildung der Kinder Beteiligten wichtig. Nur gut ausgebildete Kinder und Jugendliche können gut ausgebildete Fachkräfte in den verschiedenen Berufen werden, die unsere Gesellschaft dringend benötigt.
Anne Deimel
Ungeschickte Terminierung der Videokonferenz mit den Schulleitungen
Die Schulleitungen der Grundschulen werden offiziell am 12. Juni in einer Digitalkonferenz informiert. Dieser Termin fällt mitten in die Zeit der Zeugnisvorbereitungen. Schulleitungen sind in dieser Zeit gefordert, alle Zeugnisse der Schülerinnen und Schüler ihrer Schule intensiv zu sichten und einzeln mit den Lehrkräften zu besprechen. Dazu Anne Deimel:
„Hier zeigt sich bedauerlicherweise wieder einmal, dass die Administration vom Alltag in den Schulen weit entfernt ist. Wie soll Entlastung für Schulleitungen geschaffen werden, wenn das Ministerium nicht weiß, was genau im Laufe des Schuljahres jeden Tag geleistet wird?“
Die richtigen Schlüsse ziehen
Seit Jahrzehnten fordert der VBE, die Schulen in NRW besser auszustatten. Die Stimmen aus der Praxis machen schon sehr lange deutlich, wie dringend nötig kleinere Klassen und Lerngruppen sind, um individuell fördern zu können.
Nun verbindliche Vorgaben für die Grundschulen zu verkünden, sorgt für Verärgerung, denn es trifft die Menschen, die in den Schulen täglich trotz des Fachkräftemangels die Systeme aufrechterhalten. Wer Schul- und Unterrichtsentwicklung ermöglichen möchte, muss die Schulen massiv stärken sowie Pädagoginnen und Pädagogen entlasten, um ihnen Zeit für die Arbeit mit den Kindern zu geben. Die Landesregierung ist gefordert, die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Vorsitzende des VBE NRW
Weiterführende Informationen:
Pressemitteilung 19/2023