Von Christian Brüggemann und Björn Hermstein
Obschon sich wieder einmal bestätigt, dass Kommunen in der Programmentwicklung besser beteiligt werden sollten, zeigt das aktuelle Startchancenprogramm der Bundesregierung doch: Bildung ist ohne kommunale Verantwortung nicht zu denken. Im wissenschaftlichen Diskurs wird oft übersehen, dass nahezu jede Bildungsreform, jede Maßnahme der Schulentwicklung die Kommunen als Schulträger adressiert, ihnen Verfügungsrechte zuweist und (organisatorische, finanzielle und zum Teil inhaltliche) Pflichten überträgt (Hermstein, 2024). Egal ob es um die Umsetzung ganztägiger und inklusiver Bildung, die Digitalisierung im Bildungswesen, die Förderung von Familienbildung und Sozialraumorientierung in Kitas und Schulen, die Stärkung von Kinderrechten und Schutzkonzepten, den Ausbau von Kita- und Schulsozialarbeit oder aber die Entwicklung moderner Raum- und Ausstattungskonzepte in Bildungssettings geht: Stets sind die Kommunen an Bord.
Je nach sozioökonomischer und fiskalischer Ausgangssituation können die bildungspolitischen Reformvorhaben von Bund und Ländern seitens der Kommunen auch als Bürde aufgefasst werden. Gleichwohl ist zu konstatieren: Kommunen wollen zusätzliche Verantwortung für die Gestaltung „ihrer“ Bildungssysteme übernehmen. Hiervon zeugt u. a. die Vielzahl an Erklärungen und Initiativen, die von kommunalen Verbänden und Vereinigungen abgegeben wurden. Eindrückliche Beispiele sind die Erklärung „Lokale Verantwortung für Bildung und Ausbildung“ der Weinheimer Initiative aus dem Jahr 2007, die Aachener Erklärung „Bildung in der Stadt“ (2007) und die Münchener Erklärung „Bildung gemeinsam verantworten“ (2012) des Deutschen Städtetages sowie das Positionspapier „Herausforderungen im Bildungswesen“ (2014) des Deutschen Landkreistags. Kennzeichnendes Merkmal dieser bildungspolitischen Agenda ist: Kommunen möchten seit einigen Jahren über ihre Pflichtaufgaben hinaus aktiv das Bildungswesen gestalten und für ihre diesbezüglichen Leistungen Anerkennung finden. Leitbild des Engagements ist die Kommunale Bildungslandschaft, eine Melange aus traditionellen kommunalen Praktiken wie der Planung von schulischen und außerschulischen Bildungsangeboten und neuen Formen der Steuerung, die als Bildungsmanagement und -monitoring bezeichnet werden (Brüggemann, Hermstein & Nikolai, 2023).
Bemerkenswerter als die mit Bildungslandschaften verbundenen Verwaltungsreformen – Bildungsbüros, Steuerungs- und Arbeitsgruppen, Bildungsleitbilder, Bildungskonferenzen, Bildungsberichte – ist der darin sichtbare Kulturwandel: Kommunale Bildungsverantwortung meint im Hinblick auf die Entwicklung von Schule nicht mehr allein die (leider oft unterschätzte) Bereitstellung adäquater Infrastrukturen, sprich die Besorgung bildungsrelevanter Inputfaktoren wie Gebäude und sachliche Ausstattung. Sie umfasst auch die Prozess- und Outputdimensionen von Bildung. Die offensive Forderung nach mehr Selbstständigkeit und mehr Verantwortung „nicht nur für finanzielle, sächliche und personelle Ressourcen, sondern auch und gerade für die Erfolge der Schule“ (Landkreistag, 2014) zeigt, dass Kommunen ihren Stellenwert reflektieren und ihre Standpunkte selbstbewusst zur Geltung bringen.
Wie Studien zu Bildungsungleichheiten immer wieder verdeutlichen, ist den Kommunen hier nachdrücklich das Wort zu reden. Bildung findet vor Ort statt, Bildungsbenachteiligungen und institutionelle Diskriminierungen haben aber ebenso eine lokale Dimension. Trägerstrukturen im Kitabereich, die Institutionalisierung von (auch außerschulischer) Ganztagsbildung und die Verteilungen von Schulangeboten im kommunalen Raum stellen ungleichheitsmoderierende Faktoren der Bildungsbeteiligung und des Bildungserfolgs dar. In Kommunen, sowohl in Städten als auch in Landkreisen, kommen Prozesse sozialer Segregation zum Tragen, auch gefördert durch die spezifische Beschaffenheit der Bildungslandschaften (Helbig & Nikolai, 2019; Schieler & Menzel, 2024). Allein der Blick auf formelle Bildungsprozesse würde aber zu kurz greifen: Städtebauliche Planungen, wohnräumliche Muster, Verteilungen von Grün- und Spielflächen, die Bewirtschaftung kommunaler Begegnungsstätten und Aneignungsräume für Kinder und Jugendliche werden durch die Kommunen geprägt und eröffnen Sozialisationskontexte, die auch die schulische Bildungsarbeit mehr oder weniger direkt prägen.
Mit der Aneignung des Leitbilds kommunaler Bildungslandschaften deuten Kommunen einen ambitionierten Wandel an – Bildungsverantwortung auch im Hinblick auf Ergebnisse gedacht. Bildungsmanagement will Bildungsprozesse mitgestalten, am offensichtlichsten im Feld der Bildungsübergänge, z. B. am Übergang Kita – Grundschule durch Informationsveranstaltungen für Eltern oder am Übergang Schule – Beruf mit (auch verstärkt im digitalen Raum präsenten) Beratungs- und Informationsangeboten. Mit öffentlichkeitswirksamen Bekundungen ist es allerdings nicht getan. Kommunen, insbesondere die kommunale Bildungs- und Jugendhilfeverwaltung, sind angesichts der vielfältigen Herausforderungen im Bildungswesen gefragt, partizipative Aushandlungsprozesse zu fördern und alle an Bildung beteiligten Akteure hierzu einzuladen, vielleicht auch aufzufordern. Hierin liegt eine gewisse Herausforderung, wird man doch schnell mit unbequemen Problemstellungen konfrontiert, die entweder die Frage aufwerfen, warum noch nicht gehandelt wurde, oder dann doch die Grenzen der kommunalen Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. Um eine aktive Rolle auch tragfähig implementieren zu können, bedarf es der Grundvoraussetzung, neben Bildungsdaten auch das Wissen und die Erfahrungen der Bildungspraxis anzuerkennen. Ein solcher Anspruch adressiert nicht allein die Bildungspolitik, Bildungsdezernent:innen und Bürgermeister:innen wie Landrät:innen, sondern insbesondere auch pädagogische Fachkräfte und junge Menschen selbst. Auffällig unerforscht, aber umso wichtiger sind es Vertreter:innen der Pädagogik – etwa Personalräte und Schüler:innenvertretungen –, die im Zentrum einer kritischen kommunalen Bildungsöffentlichkeit stehen könnten.
Zukünftig ist es auch für die Wissenschaft angezeigt, die a priori affirmativ als Unterstützungssysteme ausgewiesenen Stellen im Bildungsmanagement auf ihre Leistungen hin zu befragen. Insbesondere Leitungen von Schulen und freien Trägern der Jugendhilfe werden ihre eigenen Erfahrungen mit neuen Akteuren wie Bildungsbüros und Steuerungsgruppen gemacht haben, die vielerorts vielleicht auch schlicht die altbekannte Verwaltungspraxis stabilisieren. Sie versprechen aber, Beteiligungsräume zu eröffnen, denen sich Bildungseinrichtungen gegenüber offensiv und durchaus provokativ positionieren können. Leitungskräfte können die durch Bildungsmanagement geschaffenen Öffentlichkeiten pragmatisch nutzen, um die Schulverwaltungen von Kommune und Land zur Anerkennung und Bearbeitung bildungspraktischer Problemlagen zu bewegen. Kommunale Bildungsberichterstattung tendiert dazu, zum Selbstzweck zu werden, und könnte durch eine umfangreichere kommunale Beteiligung stärker von konkreten Frage- und Problemstellungen aus gedacht werden.
Essenziell für ein problembewusstes kommunales Agenda-Setting ist ein vertrauensvolles Zusammenwirken zwischen Politik, Verwaltung und pädagogischer Praxis – auch dort, wo Konflikte über Zuständigkeiten oder pädagogische Prioritäten offen zutage treten. Solche Konflikte sollten nicht verdrängt, sondern im Sinne einer lösungsorientierten Perspektivenübernahme produktiv genutzt werden. Eine auf ausgewählte Kernthemen und lokale Anliegen zugespitzte kommunale Bildungsagenda könnte die Motivation zur Mitwirkung fördern, politisches Commitment bewirken und die neuen Strukturen und Stellen sinnvoll einbinden. So gesehen liegen in Kommunen ungenutzte Potenziale, die in verstärktem Maße auch bottom-up geweckt werden sollten.
Literatur
Brüggemann, C., Hermstein, B., & Nikolai, R. (Hrsg.) (2023). Bildungskommunen:
Bedeutung und Wandel kommunaler Politik und Verwaltung im Bildungswesen. Beltz Juventa.
https://www.pedocs.de/frontdoor.php?source_opus=26500
Deutscher Landkreistag (2014). Herausforderungen im Bildungswesen – Kommunaler Gestaltungsauftrag
und Gestaltungswille. Beschluss des Präsidiums des Deutschen Landkreistages vom 1./2.10.2014.
https://www.landkreistag.de/images/stories/publikationen/2014_Herausforderungen_im_Bildungswesen.pdf
Helbig, M., & Nikolai, R. (2019). Bekommen die sozial benachteiligsten Schüler*innen die „besten“ Schulen?
Eine explorative Studie über den Zusammenhang von Schulqualität und sozialer Zusammensetzung
von Schulen am Beispiel Berlins. WZB. https://bibliothek.wzb.eu/pdf/2019/p19-002.pdf
Hermstein, B. (2024). Schulträger. Eine postheroische Führungsinstanz im Mehrebenensystem Schule.
DDS – Die Deutsche Schule, 2024 (3), 239–251. https://doi.org/10.31244/dds.2024.03.02
Schieler, A., & Menzel, D. (2024). Kitas 2. Klasse?: Mehrfachbelastungen von Kitas mit Kindern
aus sozioökonomisch benachteiligten Familien. https://library.fes.de/pdf-files/a-p-b/21331.pdf
Prof. Dr. Björn Hermstein ist seit 2024 Professor für Bildungssoziologie in der Sozialen Arbeit an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften. Nach Stationen an den Universitäten Jena und Dortmund war Björn Hermstein selbst in der kommunalen Bildungsverwaltung tätig. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören die kommunale Bildungs- und Jugendhilfepolitik, das Zusammenwirken von Schule und Familie sowie Beiträge von Schulträgern zur Schulentwicklung, z. B. im Feld der Digitalisierung.
Prof. Dr. Christian Brüggemann ist seit 2022 Professor für Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe an der Hochschule für Soziale Arbeit und Pädagogik (HSAP) in Berlin und war zuvor unter anderem Stipendiat beim Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen in Bratislava und Kreisjugendpfleger im Landkreis Stade. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören aktuell u. a. Kitasozialarbeit, Kinderschutz an Schulen und kommunale Bildungspolitik.
Starke Bildung. Starke Menschen.