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Bildungsrevolutiondank KI?!

Von Klaus Zierer


Nach wie vor bestimmt KI die Bildungsdebatte. Chatbots, allen voran ChatGPT, werden als „Game Changer“ im Schulsystem gefeiert, weil sie – so heißt es immer wieder – Lernen persönlicher, individueller, wirksamer machen. Und ohne Zweifel sind Chatbots ein Paradebeispiel dafür, was menschliche Schöpferkraft alles hervorbringen kann. Revolutionierte noch vor Jahrzehnten der Taschenrechner die Möglichkeiten beim Rechnen, weil komplexe Aufgaben in Windeseile gelöst werden können, so sind heute ChatGPT & Co. das Pendant in der Sprache. In Sekundenschnelle wird das Weltwissen des Internets genutzt und zu allen Fragen eine grammatikalisch und orthografisch korrekte Antwort gegeben. Dass dabei auch Fehler unterlaufen, mag durchaus verstören, aber zu Fall bringen werden sie Chatbots nicht. Schon heute zeigen Befragungen, dass immer mehr Menschen darauf zurückgreifen und selbst Schüler sie nutzen. Wer braucht schon noch Hausaufgaben, warum sollte man noch etwas auswendig lernen und wieso noch die Mühen auf sich nehmen, einen Gedanken oder gar einen Text
selbst zu produzieren, wo ChatGPT & Co. das schneller und in vielen Fällen auch besser können? Aber genau darin liegt die Gefahr, die bereits Taschenrechner vor Augen führten: Schnell hat man ein Ergebnis, das viele aber weder einordnen noch interpretieren können – „from judgment to calculation“, also weg vom Urteilen hin zum Berechnen, wie Joseph Weizenbaum das damit verbundene Problem benennt. Das Denken wird ausgelagert und man fragt sich: Wo lassen
Sie denken?

Es lohnt sich also, genauer hinzusehen, auf das, was hier aus pädagogischer Sicht passiert. Ein Blick in die Hattie-Studie zum Beispiel, die als der größte Fundus der empirischen Bildungsforschung gilt, führt acht Meta-Analysen zur Wirksamkeit von Chatbots auf, die die Ergebnisse aus 180 Einzelstudien aus den letzten zwei Jahren untersuchen. Der Schluss ist zunächst nichts Neues: Technik ist weder gut noch schlecht für den Menschen. Es kommt darauf an, wie Technik genutzt wird. Dass diese heute einfacher zu bedienen ist, steht außer Frage. Entscheidend aber im Schulsystem ist, sie so einzusetzen, dass sie dem Menschen und seiner Bildung dient. Sowohl aus der Praxis als auch aus der Forschung ist es trotz aller Euphorie wichtiger denn je, auf drei Fallstricke hinzuweisen:

Erstens hängt die Wirkung des Einsatzes von Chatbots besonders von der Fähigkeit ab, die richtigen Befehle, also Prompts, zu geben. Wer beispielsweise Chatbots mit den Hausaufgaben füttert, bekommt schnell und in aller Regel auch die richtige Antwort. Aber gedacht hat hier nicht der Mensch und darum hat auch er nichts gelernt. Bildungswirksamer ist es, dem Chatbot die eigene Lösung zu geben und um eine Rückmeldung zu bitten: Wo sind Fehler in meiner Bearbeitung, ohne die Lösung zu nennen? Welche Hinweise zu den Fehlern können mir bei der Lösung helfen? Erkläre Schritt für Schritt die Korrektur? Diese Fragen können, wenn nötig der Reihe nach eingesetzt, das eigene Denken anregen und daher lernförderlich sein. Der Chatbot als kritischer Freund, nicht als Denkersatz.

Zweitens ist die Wirkung von Chatbots abhängig von der eigenen Kompetenz im Fach. Denn nicht alles, was Chatbots als Antwort liefert, ist korrekt. Sie halluzinieren, haben einen Bias, machen manchmal auch einfach unsinnige Sachen. Daher ist ein Mindestmaß an Kompetenz nötig, um Chatbots zielführend nutzen zu können. In der Psychologie ist diese Erkenntnis altbekannt und wird in Anlehnung an die gleichnamigen Forscher als Dunning-Kruger-Effekt bezeichnet, gemeinhin auch als Dumm-und dümmer-Effekt. Warum? Weil aus Studien sichtbar wird, dass inkompetente Menschen in ihrer Unwissenheit gefangen sind – weder können sie ihre eigene Unwissenheit richtig einschätzen und überschätzen sich daher häufig noch sind sie in der Lage, korrekte Antworten
zu erkennen und daher von falschen zu unterscheiden. Im Umgang mit Chatbots im Schulsystem ist der Dunning-Kruger-Effekt folgenreich, denn er macht deutlich, dass der Schüler eine fachliche Grundkompetenz braucht, um mit den Antworten oder Fragen der KI lernen zu können. Werden daher Chatbots zu früh im Lernprozess eingesetzt, ist der Schaden wortwörtlich vorprogrammiert.

Und drittens erweist sich der bildungswirksame Einsatz von Chatbots nicht nur als eine Frage der Kompetenz, sondern auch und vor allem als eine Frage der Haltung: beharrlich zu widerstehen, den Chatbot denken zu lassen, sondern selbst zu denken; gewissenhaft die Aufgaben zuerst selbst zu bearbeiten, bevor die KI um Unterstützung gebeten wird; konzentriert bei der Sache zu bleiben und den Rechner auch wieder auszuschalten, wenn er nicht mehr gebraucht wird. Damit zeigt sich ein klassischer Faktor gerade im Umgang mit Chatbots als unabdingbar: die Fähigkeit der Selbstkontrolle. Diese hat mit den größten Einfluss auf den Bildungserfolg und ist seit jeher die am schwierigsten zu fördernde Eigenschaft von Schülern. Wer also diese Haltung der Ausdauer, der Gewissenhaftigkeit und der Konzentration nicht mitbringt, versinkt schnell in einer unreflektierten und damit unnützen Spielerei mit der Technik – ein Bild, das sich derzeit in vielen Kinderzimmern abspielt, aber auch in Klassenzimmern, wenn mehr naiv als pädagogisch durchdacht Chatbots eingesetzt werden.

Infolgedessen zeigen sich die Grenzen von KI im Bildungsbereich, die mit den Worten der Aufklärung anschaulich beschrieben werden können: selbstverschuldete Unmündigkeit – unmündig, weil der Mensch ohne Leitung eines anderen nicht mehr denkt und auch nicht mehr denken kann; selbstverschuldet, weil der Mensch auch anders könnte, wenn er nur wollte. Und auch heute versinken Menschen in einer selbstverschuldeten Unmündigkeit. Freiwillig geben sie sich der technischen Revolution hin, zücken das Handy beim Anflug von Langweile, bei Gedächtnislücken, bei Lernaufgaben. Noch bevor das eigene Denken überhaupt in Gang gekommen ist, liefern Chatbots auch schon eine Antwort. Ohne Zweifel führt all das dazu, dass der Mensch in eine Abhängigkeit
kommt, die ihm letztlich nicht nur die Freiheit, sondern auch die Vernunft rauben wird: die Freiheit, weil immer mehr Aufgaben von ChatGPT & Co. so schnell und auch so gut gelöst werden, dass irgendwann ein Weg zurück nicht mehr möglich ist und der Mensch glaubt, zu sehr im Schatten der Technik zu stehen; die Vernunft, weil über kurz oder lang Tätigkeiten, die heute als selbstverständlich gelten, keiner mehr kann und damit die nötige Kompetenz verloren ist. Das Ergebnis ist das prometheische Gefälle, wie es Günther Anders nennt, ein Gefälle zwischen den technischen Möglichkeiten einerseits, die immer größer werden, und der immer weiter abfallenden menschlichen Bereitschaft und Fähigkeit, diese kritisch zu reflektieren.

Selbstverschuldete Unmündigkeit ist folglich das Einzige, was bleibt, wenn die dargelegten Kompetenzen in Kombination mit der beschriebenen Haltung fehlen. Bildung wird dann nicht gefördert, sondern verhindert. Pädagogische Aufgabe muss stets sein, den Ausgang aus dieser selbstverschuldeten Unmündigkeit in den Blick zu nehmen. Dass dies gelingen kann, zeigen die Studien zum Dunning-Kruger-Effekt ebenso wie zum Einsatz von Chatbots: zunächst Schritt für Schritt die Fachlichkeit ebenso aufbauen wie das Verständnis des eigenen Lernens, um dann wirksame Prompts geben zu können. Dies ist im Vergleich zur Haltungsbildung einfach. Denn diese erfordert weitaus mehr Zeit und Raum, Umwege und Irrwege. Bildung meint ja nicht das, was aus einem gemacht wurde, sondern das, was man selbst aus seinem Leben gemacht hat. In diesem Sinn ist es auch nicht der Chatbot, der Lernen persönlicher, individueller, wirksamer macht. Es ist immer der Mensch selbst, der dies in der Hand hat. Bildung ist die Autorschaft des eigenen Lebens und sie zeigt sich in einer selbstverantworteten Mündigkeit, die nie an Maschinen übertragen werden darf, sondern in Interaktionen zwischen Menschen zu fördern ist. Unter diesem Leitmotiv ist KI und auch jede andere Technik in der Schule einzusetzen, denn dann kann sie bildungswirksam werden.

Es zeigt sich also der pädagogische Auftrag, den Menschen mehr als früher das Denken zu lehren. Was etwas für uns Menschen bedeutet, welchen Sinn es für uns hat, sind die zentralen Fragen und sie können von Technik nicht beantwortet werden. Mehr als früher ist es notwendig, dem Menschen die Gabe der Freiheit und die damit verbundene lebenslange Aufgabe bewusst zu machen. Verantwortung kann nicht delegiert werden. Der Mensch ist dank seiner Vernunft zwar frei von Zwängen, aber immer auch frei, sich zu entscheiden. Die vernünftige Freiheit, die Jürgen Habermas ins Zentrum seines Spätwerkes stellt, wird zum Bildungsziel der Moderne: Ohne Vernunft kann der Mensch nicht in Freiheit leben, läuft vielmehr Gefahr, in Unmündigkeit zu fallen. Und so gilt heute mehr noch als in Zeiten der Aufklärung der Wahlspruch: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Mit der Ergänzung: Und leg das Handy beiseite!


Dieser Text ist in ähnlicher Form bereits am 2. April 2025 in der Frankfurter Allgemeine Zeitung erschienen.


Prof. Dr. Klaus Zierer zählt zu den einflussreichsten Bildungsforschern des Landes. Seit 2015 ist er Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg, zuvor war er als Universitätsprofessor für Erziehungswissenschaft an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg tätig.



Starke Bildung. Starke Menschen.

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