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Natur als Bildungsraum?

Wie pädagogische Arbeit draußen gelingen kann.

Ein Beitrag von Lea Sophie Hallschmid und Dr. Andy Schieler




„Ich glaube, das ist einfach der menschlichen Entwicklung geschuldet, dass Kinder gern draußen sind, sich gern verbinden mit draußen.“
(Lehrkraft)

Kinder lernen am besten, wenn sie aktiv sind und ihre Umwelt mit allen Sinnen erfahren können. Naturraumpädagogik bietet dafür die idealen Bedingungen. Kinder haben eine natürliche Affinität zur Natur. So berichtet eine Lehrkraft an einer Grundschule, die mit den Kindern regelmäßig Zeit in der Natur verbringt: „In der Praxis sehe ich einfach motivierte Kinder, die an konkreten Lernobjekten arbeiten und die Welt entdecken.“ Aber wie wirkt sich das Lernen in der Natur auf die Entwicklung von Kindern aus? Und welche Herausforderungen gibt es bei der Umsetzung in Kitas und Schulen? Um damit zu beginnen, diese Fragen zu beantworten, haben wir bestehende Studien gesichtet und Expertinnen aus dem Bereich der Naturraumpädagogik und der Grundschule befragt. Der vorliegende Artikel regt den Diskurs rund um die Naturraumpädagogik und ihr Gelingen im Kontext der Bildung von Kindern in Kitas und Schulen an.



Positive Effekte von Naturraumpädagogik auf die kindliche Entwicklung

Die Natur ist mehr als nur eine Spielwiese – sie ist ein entscheidender Faktor für die gesunde mentale Entwicklung unserer Kinder. Zahlreiche Studien belegen, dass regelmäßige Auf-enthalte in der Natur positive Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von Kindern haben. So können Naturerlebnisse Stress reduzieren, das Selbstwertgefühl stärken und die Kreativität fördern (vgl. Raith & Lude 2014, Kaplan 1995, Sella et al. 2023). Die Natur bietet Kindern vielfältige Möglichkeiten zum Entdecken und Experimentieren. Durch die Auseinandersetzung mit natürlichen Materialien und Phänomenen entwickeln sie ein tieferes Verständnis für ihre Umwelt und stärken ihre Selbstwirksamkeit (vgl. Montessori 1980). Auch die Lernfähigkeit wird durch Naturerfahrungen gefördert, da die Natur einen anregenden Lernraum bietet, der die Sinne anspricht und die Neugier weckt (vgl. Waters & Maynard 2010).

Naturerlebnisse sind darüber hinaus entscheidend für die soziale Entwicklung von Kindern, da sie einen einzigartigen Rahmen für Interaktionen bieten. Zahlreiche Studien belegen, dass Kinder, die regelmäßig Zeit in der Natur verbringen, bessere soziale Kompetenzen entwickeln. So fördert die Natur das Spielverhalten, da die komplexere Umgebung und die natürlichen Materialien zum kreativen Gestalten und zum gemeinsamen Entdecken anregen (vgl. O‘Brien und Murray 2006). Durch das gemeinsame Spiel in der Natur lernen Kinder, miteinander zu kooperieren, zu kommunizieren und Konflikte zu lösen. Fachkräfte beobachten bei Kindern, die regelmäßig Naturerfahrungen machen, eine Verbesserung des Sozialverhaltens, der Kooperationsfähigkeit und der Kommunikationsfähigkeit (vgl. Agostini et al. 2018). Lehrkräfte stuften ehemalige Waldkindergartenkinder als sozial kompetenter ein (vgl. Häfner 2003). Kinder, die regel-mäßig Zeit in der Natur verbringen, können besser zusammenarbeiten, zuhören und sind insgesamt höflicher und kooperativer (vgl. Murray 2003). Durch das gemeinsame Spielen und Entdecken in der Natur lernen Kinder, miteinander zu interagieren, Konflikte zu lösen und Freundschaften zu schließen.

Die Natur leistet ebenso einen entscheidenden Beitrag zur physischen Entwicklung im Sinne der körperlichen Gesundheit und Entwicklung von Kindern, indem sie Kindern nahezu unbegrenzte Möglichkeiten zur Bewegung bietet. Ob beim Klettern auf Bäumen, beim Rennen über Wiesen oder beim Spielen im Sand – die Natur regt Kinder dazu an, ihren Körper auf vielfältige Weise zu nutzen. Diese körperliche Aktivität ist nicht nur für die Entwicklung der Muskulatur und der Knochen wichtig, sondern fördert auch das Herz-Kreislauf-System und stärkt das Immunsystem. Studien zeigen, dass Kinder, die regelmäßig in der Natur spielen, weniger anfällig für Krankheiten sind und eine bessere körperliche Fitness aufweisen (vgl. Grahn, et al. 1997; vgl. Kiener & Stucki 2001). Darüber hinaus trägt der Aufenthalt in der Natur zur Entwicklung der Sinne bei. Kinder lernen, ihre Umwelt mit allen Sinnen wahrzunehmen – sie hören das Rauschen des Windes, riechen die Blumen, fühlen die unterschiedlichen Oberflächen und beobachten die Tiere. Diese vielfältigen Sinneseindrücke fördern die kognitive Entwicklung und unterstützen die Kinder dabei, ihre Umwelt besser zu verstehen. Auch das Sonnenlicht, dem Kinder in der Natur ausgesetzt sind, spielt eine wichtige Rolle für ihre Gesundheit. Vitamin D, das der Körper durch Sonnenlicht produziert, ist essenziell für den Knochenaufbau und das Immunsystem. Zudem kann regelmäßiger Aufenthalt im Freien dazu beitragen, Kurzsichtigkeit vorzubeugen (vgl. Renz-Polster & Hüther 2013).

Neben den mentalen, sozialen und physischen Effekten von Naturerfahrungen fördert die Natur ebenfalls das Ausbilden eines Umweltbewusstseins. Durch direkte Begegnungen mit der Natur entwickeln Kinder eine tiefe Verbindung zu ihrer Umwelt und ein Verständnis für die Zusammenhänge in der Natur. Diese Erfah-rungen legen den Grundstein für ein lebenslanges Engagement für den Schutz der Umwelt. Studien zeigen, dass Kinder, die regelmäßig in der Natur sind, eher bereit sind, sich für den Umweltschutz einzusetzen (vgl. Gebhard 2020). Die Natur selbst ist der beste Lehrende für Um-weltschutz. Durch das Beobachten von Tieren, das Erkunden von Pflanzen und das Erleben von Wetterphänomenen entwickeln Kinder ein intuitives Verständnis für ökologische Zusammenhänge. Diese Erfahrungen prägen ihre Einstellung zur Natur und fördern eine Wertschätzung für alle Lebewesen.



Naturraumpädagogik in Deutschland: von der Theorie zur Praxis

Kitas und Schulen legen, gemeinsam mit den Familien, den Grundstein für ein lebenslanges Lernen und die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder. Im Hinblick auf die zugrundeliegende Bildungs- und Erziehungsempfehlungen von Kindertageseinrichtungen sowie den Rahmenplänen der Schulen sind Bildungsarrangements in der Natur zweifelsohne anschlussfähig. Der Rahmenplan für die Grundschule in Rhein-land-Pfalz beispielsweise betont die Bedeutung von Primärerfahrungen und der Auseinandersetzung mit der natürlichen Umwelt. Natur-raumpädagogische Ansätze, die den Unterricht ins Freie verlegen, unterstützen diese Ziele in besonderem Maße. In Deutschland gibt es eine wachsende Zahl von Kitas und Schulen, die Naturraumpädagogik in ihre Bildungspraxis und Didaktik integrieren. Von Waldkindergärten über Draußenschulen bis hin zu Regelschulen mit regelmäßigen Unterrichtseinheiten im Freien – die Vielfalt der Angebote ist groß. Die-se Entwicklung zeigt, dass das Lernen in der Natur vermehrt als wichtiger Bestandteil der Bildung anerkannt wird. Doch welcher Bedingungen bedarf es aus Sicht von Pädagog*innen, damit die pädagogische Arbeit in der Natur gelingt?



Gelingensbedingungen aus Sicht von Natur(raum)pädagog*innen und Lehrkräften

Zur Beantwortung dieser Frage nutzen wir die Ergebnisse einer empirischen Qualifikationsarbeit, in der, mithilfe von Interviews, Natur(raum)pädagog*innen, Lehrkräfte von naturnahen Grundschulen sowie Lehrkräfte von Regel-Grundschulen nach den Gelingensbedingungen von Naturraumpädagogik befragt wurden. Interviewt wurden insgesamt sechs Expertinnen im Alter zwischen 32 und 56 Jahren, die an verschiedenen pädagogischen Einrichtungen im deutschsprachigen Raum tätig sind.

Die Bedingungen, die dazu beitragen, dass viel mehr Kitas und Schulen in Deutschland als bis-lang ihre Konzeption naturraumpädagogisch erweitern, lassen sich wie folgt beschreiben. Aus Sicht der Befragten ist die unmittelbar sinnliche Erfahrung im Naturraum die relevanteste Gelingensbedingung. Diese Bedin-gung ist somit Voraussetzung und Gelingensbedingung zugleich, denn eine gelungene Naturraumpädagogik findet immer in einer für Kinder sinnlich ansprechenden Umgebung statt – draußen im Naturraum.

„Leider ist es heutzutage so, dass die Kinder ja nur noch sehr selten vor die Tür kommen oder es wenige Kinder gibt, die wirklich auch die Natur kennen. Also man hat ja gefühlt nur noch irgend-welche Bildschirme vor der Nase und von daher ist das natürlich auch ein großer Mehrwert, den das Ganze mitbringt.“
(Lehrkraft)

Als weitere wesentliche Gelingensbedingung ist die Erreichbarkeit bzw. die Verfügbarkeit von Naturräumen. Bei der Berücksichtigung der Erreichbarkeit ist es wichtig, dass es unterschiedliche Naturräume gibt – sei es im Park, im Garten, auf der Wiese, an Hecken, am Wasser oder aber auf dem Schulhof (vgl. Wauquiez 2019: 28). Wie auch die Interviews zeigen, ist demnach ein flexibles Verständnis für Naturräume wichtig, das nicht nur den Wald als Naturraum in Erwä-gung zieht. Besonders für Kitas und Schulen, die diese häufig genannte Gelingensbedingung nicht erfüllen können, weil sie inmitten von Stadtgebieten liegen, stellt das Außengelände ein großes Potenzial dar.

Weitere Gelingensbedingungen sind: das Ar-rangieren von thematisch strukturierten Bildungsangeboten; das aktive Teilhaben und Teilnehmen der Kinder; die Kooperation mit außerschulischen Partnern (z. B. Naturschutzorganisationen, Bauernhöfe oder Tierparks); ein Überwiegen der Zeit im Freien; der Aufbau eines emotionalen Naturbezugs der Kinder; die Orientierung am Jahreskreislauf, an einem verbindlichen zeitlichen Rahmen, an der kindlichen Entwicklung sowie an Nachhaltigkeits-zielen; eine flexible Einstellung in der Haltung der Lehrkräfte; ein ganzheitliches Bildungsverständnis und die Nutzung der Natur als Impulsgeberin für die Bildung der Kinder.

„Und dann haben die sich zusammen diese Moos-Kissen angeschaut. Und ich fand diesen Effekt so genial, der war viel größer, weil das von den Kin-dern selber kam. Natürlich hätte ich es auch sagen können, jetzt geht mal los und sucht fünf verschiedene Moos-Sorten, aber das ist eben was ganz anderes, wenn Kinder das aus sich selbst heraus erfahren können und ich als Lehrkraft dann so wenig wie möglich Impulse gebe.“
(Lehrkraft)

Wie die tatsächliche Zeit draußen gestaltet ist, erscheint den Befragten wichtiger als die Ermöglichung dessen. Gleichsam beziehen sich die meisten genannten Gelingensbedingungen auf die aktive Zeit draußen. Die Befragung zeigt, dass für eine naturraumpädagogische Ausrichtung in Grundschulen primär die inhaltliche, didaktische und konzeptionelle Reflexion von Bedeutung ist, weniger jedoch Hindernisse wie finanzielle Ressourcen, personelle Kapazitäten oder Zeit. Gemäß den Expertinnen ist es nicht ausreichend, lediglich nach dem Muster des traditionellen Lernens in Innenräumen vorzugehen, wenn es darum geht, außerhalb des Klassenzimmers effektiv zu unterrichten und zu lernen. Die Expertinnen sind der Ansicht, dass Kindorientierung und das Gelingen von Naturraumpädagogik eng miteinander verbunden sind.



Fazit

Die Integration von Naturraumpädagogik in das Kita- und Schulsystem stellt ein großes Potenzial dar, wenn es darum geht, Kindern einen Naturbezug zu ermöglichen, auf dessen Basis sie in ihrem Leben naturbewusste Entscheidungen treffen können. Nur wenn die Schulen in der sich entwickelnden Naturorientierung von vielen Kitas mitziehen, ist es möglich, einen Groß-teil der Kindheit wieder mehr in den Natur-raum zu verlegen. In der heutigen Welt stehen wir vor Herausforderungen, denen sich Bildung ohne Fundament nicht gewachsen zeigt – sie muss stets als integraler Bestandteil einer umfassenden Menschenbildung betrachtet werden (vgl. Renz-Polster & Hüther 2013: 207). Mit Naturraumpädagogik kann die Vision für unser Bildungssystem sein, die grundsätzlichen menschlichen Kompetenzen zu stärken, anstatt Kinder auf ihre kognitive Leistung zu reduzieren. Denn wie die Forschung zeigt, wissen wir bereits, was Kinder für ihre gesunde Entwicklung brauchen. Erst die fundamentalen Kompetenzen bilden die Grundlage, um motiviert, kreativ und selbstinitiiert lernen zu können. Dazu brauchen Kinder zunächst den Bezug zur Natur, um sich als Teil von ihr fühlen und verstehen zu können.



Für Ihre Praxis

Zur Auseinandersetzung und Weiterentwicklung Ihrer pädagogischen Arbeit in Naturräumen können folgende Reflexionsfragen behilflich sein:

  1. Mit welchen externen Partnern (z. B. Förstern, Bauern, Naturschulen …) können wir als Schule/Kita kooperieren, um Naturerfahrungen zu ermöglichen?
  2. Was braucht es, um mehr Zeit draußen verbringen zu können?
  3. Wie können wir die unterschiedlichen Gegebenheiten der Jahreszeiten für Draußenzeit nutzen (was ist im Sommer möglich, was ist im Winter möglich?)
  4. Wie kann ich die Bildung nachhaltiger Entwicklung durch Naturaufenthalte mit den Kindern fördern?



Lea Sophie Hallschmid studiert im Master die Fächer Germanistik und Philosophie auf Lehramt (Gymnasium) an der Universität Koblenz. In ihrer Bachelor-Arbeit befasste sie sich mit Chancen und Gelingensbedingungen von Naturraumpädagogik in der Grundschule aus Sicht von Natur(raum)pädagog*innen und Lehrkräften.

Dr. Andy Schieler ist Institutsreferent im Institut für Bildung, Erziehung und Betreuung in der Kindheit | Rheinland-Pfalz (IBEB), Fachbereich Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz. Im IBEB ist er unter anderem zustän-dig für den Ansatz „Qualitätsentwicklung im Diskurs“, das Thema Naturraumpädagogik und die Leitung von Forschungsprojekten. Zuvor: Promotion an der Universität Erfurt im Bereich der Entwicklungspsychologie.



Literaturangaben:

Agostini, F.; Minelli, M.; Mandolesi, R. (2018): Outdoor education in Italian kindergartens: How teachers perceive child developmental trajectories. Frontiers in Psychology, 9.

Gebhard, U. (2020): Die Bedeutung von Naturerfahrungen in der Kindheit (Vortrag).

Gebhard, U. (2013): Kind und Natur. Die Bedeutung der Natur für die psychische Entwicklung. 4. Auflage. Wiesbaden: Springer VS

Grahn, P., Mårtensson, F., Lindblad, B., Nilsson, P.; Ekman, A. (1997): Ute på dagis. Stad & Land Nr. 145. Alnarp/ Schweden. Alnarp/ Schweden.

Häfner, P. (2003): Natur- und Waldkindergärten in Deutschland: eine Alternative zum Regelkindergarten in der vorschulischen Erziehung. Heidelberg University Library.

Kiener, S.; Stucki, S. (2001): Evaluation Naturspielgruppe Dusse Verusse. Zusammenfassung Elternbefragung.

Murray, R. (2003): Forest school evaluation project – a study in Wales. Report to the Forestry Commission by the New Economics Foundation.

O’Brien, L.; Murray, R. (2007): Forest School and its impacts on young children: Case studies in Britain. In: Urban Forestry & Urban Greening 6, S. 249–265.

Raith, A.; Lude, A. (Hrsg.) (2014): Startkapital Natur. Wie Naturerfahrung die kindliche Entwicklung fördert. München: oekom.

Renz-Polster, H.; Hüther, G. (2013): Wie Kinder heute wachsen. Natur als Entwicklungsraum. Ein neuer Blick auf das kindliche Lernen, Denken und Fühlen. Weinheim und Basel: Beltz Verlag.

Rogers, C.R. (1969): Freedom to learn, C.E. Merill Pub. Co.

Sella, E.; Bolognesi, M.; Bergamini, E.; Mason, L.; Pazzaglia, F. (2023): Psychological Benefits of Attending Forest School for Preschool Children: a Systematic Review. In: Educ Psychol Rev 35 (1).

Waters, J.; Maynard, T. (2010): What’s so interesting outside? A study of child-initiated interaction with teachers in the natural outdoor environment. In: Euwopean Early Childhood Education Research Journal, Volume 18.

Wauquiez, S.; Henzi, M.; Barras, N.; Blaseio, B. (2019): Draußen unterrichten. Das Praxishandbuch für die Grundschule. (Ausgabe für Deutschland). Bern: hep Verlag.








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