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Im Gespräch: Das Gutachten zum AO-SF-Verfahren


Angesichts steigender Zahlen von Schülerinnen und Schülern mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung hatte das nordrhein-westfälische Schulministerium ein wissenschaftliches Gutachten in Auftrag gegeben mit dem Ziel, das Verfahren zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs zu bewerten und Empfehlungen für dessen Weiterentwicklung auszuarbeiten. Das „Gemeinsame Gutachten zum Wissenschaftlichen Prüfauftrag zur steigenden Anzahl der Schülerinnen und Schüler mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung“ ist nunmehr zum Abschluss gekommen und im Mai erschienen. Warum die Befunde seitens des VBE NRW mit großer Sorge zur Kenntnis genommen worden sind, erläutert die Landesvorsitzende, Anne Deimel, im Rahmen einer Pressemitteilung: „Jede Seite dieses Gutachtens zeigt auf, dass alle Beteiligten – die Schulen, die Eltern und die Schülerinnen und Schüler – über viel zu viele Jahre alleingelassen wurden. Keiner der zuständigen Landesregierungen ist es gelungen, eine tragende Strategie zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention aufzustellen.“ (Lesen Sie die gesamte Pressemitteilung auf www.vbe-nrw.de.) An der Erstellung des Gutachtens sind mehrere Expertinnen und Experten aus Nordrhein-Westfalen beteiligt gewesen, u. a. Professorin Bettina Amrhein und Dr. Benjamin Badstieber von der Universität Duisburg-Essen sowie Ulrich Gelsing, Leitender Regierungsschuldirektor (LRSD) a.D. Wir haben mit ihnen gesprochen.




Interview mit Prof.in Dr.in Bettina Amrhein und Dr. Benjamin Badstieber:

Frau Professorin Amrhein, Herr Dr. Badstieber, welche Fragestellungen waren mit dem von Ihnen verantworteten Teilprojekt 2, der „Systemischen Gesamtbetrachtung“, verbunden?

Frau Professorin Amrhein, Herr Dr.  Badstieber, welche Fragestellungen waren mit  dem von Ihnen verantworteten Teilprojekt 2, der  „Systemischen Gesamtbetrachtung“, verbunden?
Anlass des „Wissenschaftlichen Prüfauftrags zur steigenden Anzahl der Schülerinnen und Schüler mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung“ waren insbesondere die Feststellungen des Landesrechnungshofes, dass die AO-SF-Verfahren seit Jahren kontinuierlich steigen und dass 95% der Anträge genauso beschieden werden wie beantragt. Im Teilprojekt 2 ging es darum, hier herauszufinden, wie dies systemisch zu erklären ist. Es ging also nicht darum, die Arbeit einzelner Akteur*innen zu begutachten, sondern die sonderpädagogischen Feststellungsverfahren in ihrer grundlegenden systemischen Ausrichtung zu analysieren. Ziel soll es laut Auftrag sein, insbesondere das Verhältnis bzw. Zusammenspiel der beiden Systeme „Förderschulen“ und „Schulen des Gemeinsamen Lernens“ zu berücksichtigen. Wir haben drei Analyseschritte durchgeführt: (1) Eine literaturgestützte Erarbeitung des wissenschaftlichen Forschungstandes, (2) Interviews mit wissenschaftlichen Expert*innen und (3) die Analyse von AO-SF-Gutachten. Davon ausgehend haben wir Empfehlungen für eine Um- und Neugestaltung der Feststellungsverfahren in NRW vorgelegt, die wir dann mit den Kollegen aus den anderen Teilprojekten für die Entwicklung gemeinsamer Empfehlung abgestimmt haben. Wir sprechen in diesem Interview nur über die Ergebnisse aus unserem Teilprojekt 2.

Welche zentralen Erkenntnisse konnten Sie gewinnen und welches Ergebnis hat Sie dabei am meisten überrascht?

Welche zentralen Erkenntnisse konnten Sie gewinnen und welches Ergebnis hat Sie dabei am  meisten überrascht?
Was uns am meisten überrascht hat, war die Erkenntnis, dass es schon seit etwa 20 Jahren fundierte empirische Erkenntnisse gibt und seitdem immer wieder in sehr ähnlicher Weise bestätigt wurde, dass wir dringend eine systemische Neuausrichtung der AO-SF-Verfahren brauchen. Am wichtigsten ist dabei wohl die Erkenntnis, dass durch das AO-SF-Verfahren Probleme in der Bildung und Erziehung (fast) ausschließlich als Probleme der Kinder und Jugendlichen markiert werden. Systemisch gesprochen, legen die AO-SF-Verfahren eine Logik nahe, die dazu führt, dass im Falle eines (voraussichtlichen) Scheiterns von Bildung und Erziehungsprozessen nicht danach gefragt wird, wie wir Schulen unterstützen können, um es doch hinzubekommen, sondern danach gefragt wird, was denn mit den Kindern „nicht stimmt“. In der Forschung sprechen wir hier von Individualisierung beziehungsweise Pathologisierung.

Was sind aus Ihrer Sicht die größten Probleme des AO-SF-Verfahrens?

Was sind aus Ihrer Sicht die größten Probleme  des AO-SF-Verfahrens?
Die Ergebnisse unserer Analyse zeigen, dass sich vielfältige Probleme ergeben. Aufseiten der Schüler*innen stellt die Vergabe eines sonderpädagogischen Förderbedarfs eine zumeist schwerwiegende Zäsur in ihre Bildung und Lebensbiografien dar. Wir wissen, dass mit der Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs Stigmatisierung und weitergehende Benachteiligung einhergehen können. In den bisherigen Forschungsarbeiten wird wiederholt deutlich gemacht, dass durch die AO-SF-Verfahren eine milieuspezifische Segregation und Bildungsbenachteiligung im Schul- und Bildungssystem verstärkt bzw. aufrechterhalten werden. Aber auch aufseiten der Schulen ergeben sich schwerwiegende Probleme. Am wichtigsten scheint hier der Effekt, dass viele Ressourcen und Energien eingesetzt werden, Probleme bei Schüler*innen zu dokumentieren und nicht dafür verwendet werden, um Verbesserungsnotwendigkeiten und -potenziale in den Schulen besser zu erkennen und nutzen zu können. Tatsächlich wissen wir aus der Forschung, dass die sonderpädagogischen Feststellungsverfahren für den späteren Unterricht nur eine geringe Rolle spielen und nur wenige konkrete Hinweise enthalten, wie man Schule und Unterricht besser gestalten könnte. Systemisch gesprochen verbringen wir also mit den AO-SF viel Zeit damit, Defizite von Kindern und Jugendlichen zu finden und zu dokumentieren, anstatt uns mit ihren Fähigkeiten zu beschäftigen und zu überlegen, wie wir Bildung besser machen können. Dies kann zusätzlich belastend sein für das Schulpersonal (Lehrkräfte, Sonderpädagoginnen, …), die sich ja vor allen Dingen als Unterstützer*innen verstehen und in dieser Richtung arbeiten wollen.

Inwiefern führt die AO-SF-Gutachtenpraxis in NRW zu einem Anstieg der Anzahl der Kinder mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf?

Inwiefern führt die AO-SF-Gutachtenpraxis in  NRW zu einem Anstieg der Anzahl der Kinder mit  sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf?
Systemisch betrachtet, schafft das AO-SF-Verfahren Anreize auf der Seite des allgemeinen Schulsystems, sich zu entlasten, indem es Schüler*innen einen Förderbedarf zuspricht und die Probleme damit in die Verantwortung der Sonderpädagogik übergibt bzw. Ressourcen akquiriert. Auf der anderen Seite ergibt sich für die Sonderpädagogik die Möglichkeit, sich für die Schüler*innen zu engagieren und ihre Expertise einzubringen. So erklärt sich systemisch der fortlaufende Anstieg an AO-SF-Verfahren und die Tatsache, dass nahezu alle Verfahren positiv beschieden werden. Ganz wichtig ist es uns, hier zu betonen, dass es nicht darum geht, hier die Praxis einzelner Personen zu analysieren oder gar zu kritisieren. Wir gehen davon aus, dass alle Lehrkräfte und auch Sonderpädagog*innen im besten Sinne der Schüler*innen handeln. Systemisch aber führen das Zusammenspiel von dem Wunsch nach Entlastung und Ressourcen auf der einen Seite und dem Wunsch nach Unterstützung-geben auf der anderen Seite dazu, dass immer mehr Kinder mit einem Etikett belegt werden. Diese Tendenz verstärkt sich natürlich noch einmal deutlich, wenn das allgemeine Schulsystem besonders belastet ist, wie es derzeit etwa mit Blick auf den Personalmangel der Fall ist.

Welche Schritte zur Verbesserung des AO-SF-Verfahrens können aus Ihrem Teilprojekt abgeleitet werden?

Welche Schritte zur Verbesserung des AO-SF-Verfahrens können aus Ihrem Teilprojekt abgeleitet werden?
Unsere Analysen weisen ganz klar in die Richtung, dass es zukünftig notwendig sein wird, die allgemeinbildenden Schulen zu stärken und zu unterstützen. Wenn es unser Ziel ist, eine richtig gute Bildung und Unterstützung der Schüler*innen möglich zu machen, ohne dass sie dafür das Etikett sonderpädagogischer Förderbedarf brauchen, dann müssen wir die Schulen hierzu durch entsprechende Rahmenbedingungen (z. B. flexiblere curriculare Vorgaben), Ressourcen (z. B. Personal und Zeit) und Unterstützung (z. B. Professionalisierung) befähigen. Dies kann sicherlich nur in gemeinsamer Verantwortung aller Professionen gelingen und setzt eine größere Flexibilität in den allgemeinbildenden Schulen voraus, ihre Angebote für die unterschiedlichen Bedarfe der Schüler*innen passend zu machen. Unsere Empfehlungen gehen also dahin, die Diagnostik bei den Kindern und Jugendlichen nicht für eine Statuszuweisung zu verwenden, sondern wirklich zu nutzen, um herauszufinden, welche Voraussetzungen geschaffen werden müssen, damit sie im Unterricht in ihrem Lernen und in ihrer Entwicklung unterstützt werden können. Wir sprechen hier von einer lernprozessbegleitenden Diagnostik. Gleichzeitig müssen wir dringend dazu übergehen, nicht nur den Blick auf die Schüler*innen zu richten, sondern uns zu fragen, welche Barrieren in der Schule und im Bidungssystem dazu führen, dass Erziehung und Bildungsprozesse scheitern können. Wir sprechen uns hier für die Entwicklung eines Diagnoseinstrumentes und -prozesses zur Feststellung systemischer Barrieren in Schule aus.

Hand aufs Herz: Wie stark sind Ihre Hoffnungen, dass Ihre Empfehlungen auch tatsächlich umgesetzt werden?

Hand aufs Herz: Wie stark sind Ihre Hoffnungen, dass Ihre Empfehlungen auch tatsächlich  umgesetzt werden?
Die Tatsache, dass wir in unserem Teilprojekt 2 aufzeigen konnten, dass wir bereits seit vielen Jahren über die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum dringen Reformbedarf der AO-SF-Verfahren verfügen und bisher so wenig passiert ist, stimmt zunächst wenig zuversichtlich. Allerdings sehen wir gerade auch mit dem jetzigen Gutachten noch einmal die große Chance, hier die richtigen politischen Entscheidungen auf den Weg zu bringen. Wir hoffen und wünschen uns sehr, dass es durch das Gutachten gelingt, das AO-SF-Verfahren systemisch neu auszurichten. Unsere Hoffnung ist, das Verfahren mehr darauf zu fokussieren, die allgemeinbildenden Schulen zu befähigen, den Schüler*innen ohne Label eine qualitativ hochwertige Ausbildung und eine erfüllende Schulzeit zu ermöglichen. Eine wirklich zielführende Veränderung der AO-SF Verfahren und ein Stopp des stetigen Anstiegs der Fallzahlen kann nur dann gelingen, wenn wir es schaffen, die Rahmenbedingungen für das Lernen und Leben in allgemeinbildenden Schulen zu verbessern. Wir würden damit auch einen wichtigen Schritt zur Umsetzung der UN-BRK leisten. Wenn es uns gelingt, hier einen mutigen Schritt zu gehen und die Ressourcen in dieser Richtung zu nutzen, wäre dies nicht nur ein enormer Zugewinn für die Kinder und Jugendlichen, sondern auch ein Erfolg für die in Schule Beschäftigten und die Bildung im Bundesland NRW. Wir freuen uns und sind gespannt darauf, von den Überlegung zur Umsetzung der Empfehlung aus dem Gutachten vom Ministerium nach der Sommerpause zu hören.




Bettina Amrhein ist die Leiterin des Lehrstuhls „Inklusion und Diversität“ an der Universität Duisburg-Essen. Sie ist ausgebildete Grund- und Sekundarschullehrerin und beschäftigt sich seit vielen Jahren wissenschaftlich mit der Ausgestaltung schulischer Inklusion auch im internationalen Kontext. Ihre Expertise liegt insbesondere in der Erforschung und Erarbeitung neuer Wege im schulischen Umgang mit Verhalten sowie emotionalen und sozialen Unterstützungsbedarfen von Schüler*innen.

Benjamin Badstieber ist Akademischer Rat im Arbeitsbereich „Pädagogische Inklusion und Diversität“ an der Universität Duisburg-Essen. Er ist ausgebildet im Lehramt für Sonderpädagogik und verfügt über eine umfangreiche Expertise mit Blick auf die Ausgestaltung schulischer Inklusion in der Bildung. Er beschäftigt sich insbesondere mit der Erforschung und Erarbeitung neuer Wege mit belastendem Verhalten und emotionalen und sozialen Unterstützungsbedarfen von Schüler*innen.

Gemeinsam unterstützen Professorin Dr.in Amrhein und Dr. Badstieber seit vielen Jahren Schulen in komplexen Entwicklungsprozessen. Gerade haben sie ein umfangreiches und innovatives Unterstützungsangebot für neue Lösungen im Umgang mit herausforderndem Verhalten in Schule entwickelt: www.umbraise.de





Interview mit Ulrich Gelsing:

Herr Gelsing, welche Fragestellungen waren mit dem von Ihnen verantworteten Teilprojekt 4, der „Ökonomischen Analyse und Bewertung der Antragstellungen“, verbunden?

Herr Gelsing, welche Fragestellungen waren  mit dem von Ihnen verantworteten Teilprojekt 4,  der „Ökonomischen Analyse und Bewertung der  Antragstellungen“, verbunden?
Zentraler Aspekt der ökonomischen Analyse durch Prof. Timmermann ist die Zeiteffizienz der Gutachten und der Gesamtverfahren. Aufgezeigt werden hierbei fundamentale Schwachstellen im derzeitigen Verfahren nach AO-SF – hier insbesondere eine Fülle begrifflicher Unschärfen bei verschiedenen Akteuren und Aktionsebenen sowie ein landesweit chaotischer Eindruck bei der Durchführung und Dokumentation der Verfahren. In einem weiteren – von mir verantworteten – Teil des Teilprojektes 4 werden aus schulfachlicher Perspektive Möglichkeiten der Effizienz- und Effektivitätssteigerungen bei der Antragstellung und Durchführung von Verfahren entwickelt und aufgezeigt. Dabei werden auch kritische Überlegungen zur Funktion der AO-SF im Kontext der sonderpädagogischen Förderung von Schülerinnen und Schülern mit in den Blick genommen. Im Mittelpunkt steht dabei das Interesse an der Perspektive der Agierenden im Bereich der AO-SF – Verfahren (also z. B. der Lehrerinnen und Lehrer, aber auch der Schulaufsichtsbeamt*innen und anderer Auf der Grundlage von 60 durchgeführten Interviews mit Akteuren unterschiedlicher Professionen und unterschiedlicher Handlungsebenen wurden Erfahrungen mit der Durchführung der AO-SF-Verfahren gesammelt, kritisch beleuchtet und Veränderungsbedarfe beschrieben. Um es vorweg zu sagen: In einzelnen Schulaufsichtsbehörden wurden durchaus sehr gute Arbeitsstrukturen geschaffen, die für künftige landesweite Entwicklungen vorbildhaft sein können.

Welche zentralen Erkenntnisse konnten Sie gewinnen und welches Ergebnis hat Sie dabei am meisten überrascht?

Welche zentralen Erkenntnisse konnten Sie gewinnen und welches Ergebnis hat Sie dabei am  meisten überrascht?
Folgende gemeinsame Schlussfolgerungen aus der bildungsökonomischen und der schulfachlichen Perspektive sind von zentraler Bedeutung für notwendige Veränderungen: Zur Optimierung der Verfahrensabläufe bedarf es dringend landeseinheitlicher Vorgaben in einem digitalisierten Verfahrensprozess. Der Professionalisierung vor allem der Lehrkräfte allgemeiner Schulen und sonderpädagogischer Lehrkräfte zur Sicherstellung einer entwicklungsbezogenen Lernprozessdiagnostik ist in Aus- und Fortbildung besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Sowohl aus ökonomischer als auch aus schulfachlicher Sicht wird eine rein verfahrenstechnische Betrachtung der Feststellungsverfahren der gesetzten Zielsetzung der Verschlankung der Verfahrensabläufe nicht gerecht. Hieraus ergeben sich umfangreiche strukturelle und pädagogische Handlungserfordernisse. Dabei ist der Grundsatz „Prävention vor Anspruch“ (auf sonderpädagogische Förderung) hervorzuheben. Infolgedessen muss bereits in der allgemeinen Schule der Antragstellung zu einem Feststellungsverfahren eine kontinuierliche entwicklungsorientierte Lernprozessdiagnostik vorausgehen und vor Einleitung eines Verfahrens nachgewiesen werden. Den allgemeinen Schulen müssen zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben hinreichende Beratungs- und Unterstützungsmöglichkeiten sowie eine verlässliche personelle Ausstattung auch mit sonderpädagogischen Lehrkräften zur Verfügung gestellt werden. Hieraus ergibt sich die Möglichkeit einer erheblichen Reduzierung der Einleitung von Feststellungsverfahren und einer Flexibilisierung der Entscheidungswege und der Entscheidungsebenen. Regionale Expertisestellen erhalten die Funktion einer zentralen Steuerungs-, Beratungs- und Entscheidungsebene. Zu den größten Überraschungen gehörte das hohe Maß an Übereinstimmung an Problembewusstsein im Hinblick auf notwendige Veränderungserfordernisse bei den praktisch Agierenden auf allen Ebenen. Bemerkenswert ist überdies, dass alle Gutachterinnen und Gutachter aus ihrer jeweils unterschiedlichen fachlichen und wissenschaftlichen Perspektive zu übereinstimmenden Schlussfolgerungen gekommen sind.

Was sind aus Ihrer Sicht die größten Probleme des AO-SF-Verfahrens?

 Was sind aus Ihrer Sicht die größten Probleme  des AO-SF-Verfahrens?
Das AO-SF-Verfahren in seiner jetzigen Form hat nicht in erster Linie den individuellen Förderanspruch der einzelnen Schülerin bzw. des einzelnen Schülers im Blick. Vielmehr dient es vorrangig • der Entlastung eines mit der individuellen Förderung überforderten allgemeinen Schulsystems, also als Förderschulzuweisungsinstrument – relativiert durch das Inklusionsgebot, • der Legitimation der Aussonderung von Schülerinnen und Schülern, die mit ihrem Lern- und Leistungsverhalten nicht den Erwartungen des allgemeinen Schulsystems entsprechen, • der Akquise von Stellenzuweisungen durch eine entsprechende Etikettierung von Schülerinnen und Schülern und schließlich • der Verlagerung der Zuständigkeit für das Kind auf eine Förderschule oder auf eine sonderpädagogische Lehrkraft im System. Ferner sind die Verfahren selbst mit einem erheblichen Aufwand für alle Beteiligten verbunden. Hinzu kommt eine Fülle unterschiedlicher Verfahrensvorgaben und Verfahrenspraktiken in den 53 Schulamtsbezirken und 5 Bezirksregierungen.

Haben Sie eine Erklärung dafür, dass die Gesamtdauer der Verfahren in und zwischen den fünf Regierungsbezirken zum Teil gravierend variiert?

 Haben Sie eine Erklärung dafür, dass die Gesamtdauer der Verfahren in und zwischen den  fünf Regierungsbezirken zum Teil gravierend variiert?
Ein Teil der Antwort liegt in der Beschreibung der unterschiedlichen Verfahrenspraktiken und -vorgaben der verschiedenen Schulaufsichtsbehörden. Auf die fundamentalen Schwachstellen wurde – wie bereits dargestellt – von Prof. Timmermann in seiner ökonomischen Analyse hingewiesen. Ein weiteres Problem liegt in der fehlenden landesweiten Standardisierung der Gutachtenerstellung, der fehlenden Vereinheitlichung einer klaren wissenschaftlich fundierten Begrifflichkeit und den fehlenden Vorgaben zur Verwendung von wissenschaftlichen Gütekriterien genügenden Test- und Diagnosematerialien (und natürlich auch zu deren ausreichenden Bereitstellung). Last, but not least steckt eine konsequente Digitalisierung sämtlicher Dokumentationen, die hilft, Prozesse zu vereinheitlichen und effizienter zu gestalten, noch in den Kinderschuhen.

Eine der insgesamt fünf Empfehlungen ist die „Einrichtung Regionaler Expertisestellen für sonderpädagogische Unterstützung“ auf den Ebenen der Schulämter und Bezirksregierungen. Können Sie uns erläutern, wie diese Expertisestellen aussehen könnten?

 Eine der insgesamt fünf Empfehlungen ist die  „Einrichtung Regionaler Expertisestellen für sonderpädagogische Unterstützung“ auf den Ebenen  der Schulämter und Bezirksregierungen. Können  Sie uns erläutern, wie diese Expertisestellen aussehen könnten?
Expertisestellen erhalten die Funktion einer zentralen Beratungs-, Steuerungs-, und Entscheidungsebene in einem System flexibler Entscheidungswege und Entscheidungsebenen. Sie sind der jeweils zuständigen Schulaufsichtsbehörde zugeordnet, können auch ggf. Teil der Schulaufsichtsbehörde sein. Sie entlasten die zuständigen Schulaufsichtsbeamtinnen und -beamten, sichern die Transparenz der Abläufe für alle Beteiligten und können die Qualität der Verfahren steigern. Sie koordinieren Beratungs- und Unterstützungsprozesse in einem Netzwerk von schulischen Kompetenzoder Förderzentren und weiteren Stellen. In den Expertisestellen sind besonders zu qualifizierende Lehrkräfte für sonderpädagogische Förderung, Lehrkräfte allgemeiner Schulen und ggf. Schulpsychologinnen und -psychologen tätig. Schulische Kompetenz- oder Förderzentren könnten auch Aufgaben eines „Mobilen sonderpädagogischen Dienstes“ (MSD) wahrnehmen.

Und wie stark sind Ihre Hoffnungen, dass Ihre Empfehlungen auch tatsächlich umgesetzt werden?

Und wie stark sind Ihre Hoffnungen, dass Ihre  Empfehlungen auch tatsächlich umgesetzt werden?
Bei der Vorstellung der Ergebnisse im Ministerium hatte ich den Eindruck, dass eine hohe Aufgeschlossenheit für die dargestellten Ergebnisse und die deutliche Bereitschaft zur Prüfung ihrer Umsetzung besteht. Sicherlich wird zu unterscheiden sein zwischen mittel- bzw. langfristigen Umsetzungsentscheidungen (hier vor allem im systemischen Bereich) und relativ kurzfristigen Umsetzungsentscheidungen in „verfahrenstechnischen“ Bereichen (z. B. Vereinheitlichung der Verfahren, Digitalisierung der Verfahrensabläufe, Flexibilisierung der Entscheidungsebenen und der Entscheidungswege). Die Gesamtergebnisse des Gutachtens bieten jedenfalls aus meiner Sicht sehr gute Chancen zu einer Umsetzung der Empfehlungen.






Ulrich Gelsing, Leitender Regierungsschuldirektor (LRSD) a. D., war bis 2018 schulfachlicher Dezernent für Förderschulen bei der Bezirksregierung Arnsberg.














Die Interviews führte Dipl.-Päd. Robert Lachner, Vorstandsreferent des VBE NRW.



Robert Lachner
Dipl.-Päd. Robert Lachner 0231 449900 18 0173 40 76 630





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