Der VBE NRW bedankt sich für die Möglichkeit zur Stellungnahme zum Entwurf des schulfachlichen Eckpunktepapiers für eine Weiterentwicklung der gymnasialen Oberstufe in Nordrhein-Westfalen.
Im vorgelegten Entwurf wird darauf hingewiesen, dass er auf dem Diskussionsstand des Austauschprozesses mit Vertreterinnen und Vertretern von schulischen Verbänden und Organisationen beruht und diesen weiter fortführt. Die im Rahmen des offenen Austausches getroffenen Positionierungen weichen an einigen zentralen Punkten allerdings von der jetzigen Fassung des Eckpunktepapiers ab.
Der VBE NRW schlägt vor, eine Schwerpunktsetzung im gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenfeld zu ermöglichen, legt doch gerade der Fachkräftemangel im Bildungsbereich oder auch in therapeutischen Berufen die Möglichkeit einer gezielten Fokussierung auf die entsprechenden Inhalte bereits in der Oberstufe nahe. An diesem Punkt sind die Bemühungen zur Minderung des Lehrkräftemangels nicht konsequent umgesetzt, worunter mittelfristig nicht nur die Wirtschaft leidet. Denn gesellschaftswissenschaftliche Fächer sind angesichts der zunehmenden Radikalisierungstendenzen derzeit von besonders hoher Bedeutung und sollten von daher mit der Möglichkeit einer Schwerpunktsetzung im Abitur einhergehen.
Die Schaffung neuer Prüfungsformate und damit die Organisation weiterer Prüfungstage erfordern in den Schulen einen erhöhten Ressourcenaufwand. Neben Entlastungen zur Implementierung des Vorhabens wäre auch eine dauerhafte Erhöhung der Leitungszeit insbesondere für die Oberstufenleitungen geboten, da diese mit einem erheblichen Mehraufwand für die Durchführung der zusätzlichen Prüfungstage konfrontiert werden. Letztlich wird jedoch wegen der schulorganisatorischen Notwendigkeiten die Arbeitsleistung des Gesamtkollegiums erhöht, wenn etwa Prüfungen aus Krankheitsgründen verschoben werden müssen und Vertretungen notwendig werden.
Der Natur eines Eckpunktepapiers liegt zugrunde, dass Details erst in einem zweiten Schritt exemplifiziert werden. Aus Sicht des VBE NRW empfiehlt es sich jedoch, konkrete Vorgehensweisen vor dem Hintergrund ihrer Zielsetzung von Anfang an zusammenzudenken. Die angedachten Maßnahmen wirken in der Gesamtschau der Inhalte begrüßenswert, doch die ungeklärte Umsetzung lässt zentrale Fragestellungen unbeantwortet.
Zu den Eckpunkten im Einzelnen:
zu 1. Nordrhein-Westfalen erhält ein fünftes Abiturfach
In einer deutlichen Mehrzahl der Bundesländer gibt es fünf Abiturfächer. Da eine Vereinheitlichung gewünscht und analog zur neueren Rechtsprechung nötig ist, war das Vorhaben der Implementierung eines fünften Abiturfaches absehbar. Es bleibt dabei, dass die ersten drei Abiturfächer schriftlich sind und das vierte Abiturfach mündlich. Mit der Einführung eines verbindlichen fünften Abiturfaches erhalten die Lernenden die Möglichkeit, ein breiteres Spektrum an Kompetenzen und Inhalten zu zeigen. Die Intention einer allgemein-umfassenden Bildung wird somit angemessener verwirklicht.
Jenseits dessen stellt der VBE NRW fest, dass die an vielen Schulen durchgeführten Facharbeiten in der Q1 vor Ort zu Diskussionen führen, weil der Komplexitätsgrad der Auseinandersetzung die Schülerschaft immer mehr überfordert und die Potentiale textgenerierender KI-Tools die Prüfbarkeit behindern.
Durch die Einführung eines verbindlichen fünften Abiturfachs können die Abiturientinnen und Abiturienten zum Beispiel Defizite im Fach Mathematik nun besser durch ein weiteres Abiturfach ausgleichen. Die Möglichkeit, zwei Naturwissenschaften als Abiturprüfungsfächer wählen zu können, begrüßt der VBE NRW. Die Aufhebung der „Mathebindung“ sowie der Genehmigungspflicht für das Fach Sport im Abitur werden in gleicher Weise als sinnvolle Flexibilisierungen bewertet.
Für die Schulen bedeutet die Einführung eines weiteren Abiturfaches allerdings einen zusätzlichen Aufwand mit zusätzlichen Prüfungstagen (und damit Unterrichtsausfall) sowie eine höhere Belastung für Kollegien. Die Prüfungen müssen schließlich vorbereitet und durchgeführt werden.
zu 2. Nordrhein-Westfalen erhält neue Abiturprüfungsformate
Durch die im zweiten Eckpunkt aufgeführten neuen Abiturprüfungsformate sollen die Schülerinnen und Schülern die Chance erhalten, „ein breites Spektrum an curricular verankerten und im Laufe ihres Bildungsganges erworbenen Kompetenzen und Inhalten in ihren Prüfungen zu zeigen“. Hier wird die „Präsentationsprüfung“ als für NRW neues Prüfungsformat genannt, mit dem andere Bundesländer gute Erfahrungen gemacht hätten.
Alternativ wird hier die „Besondere Lernleistung“ als Prüfungsformat angeführt.
Beide Formate sollen die Möglichkeiten erhöhen, auch digital gestützt verstärkt kollaborative, kreative und kommunikative Kompetenzen sowie kritisches Denken (4K-Modell) im Rahmen der Abiturprüfung unter Beweis zu stellen.
In diesem Zusammenhang muss der VBE NRW darauf hinweisen, dass es Schulen gibt, in denen zuverlässig funktionierende Beamer bzw. die notwendige Präsentationstechnik noch nicht vorhanden ist. Demzufolge ist es an diesen Schulen schwierig, eine Prüfung durchzuführen, die diese Technik als zentrales Werkzeug nutzt. Es müssen also dringend verbindliche Vorgaben zur Ausstattung der Schulen mit Präsentationstechnik sowie deren Wartung und Instandhaltung als Grundlagen geschaffen werden, damit alle Schülerinnen und Schüler in NRW gleiche Prüfungsvoraussetzungen vorfinden.
Beide dargebotenen Prüfungsalternativen implizieren zudem Probleme im Hinblick auf die Fragen der Eigenständigkeit von Lernleistungen und deren Prüfbarkeit. Eine reine Erarbeitung der Inhalte bzw. Erstellung von Produkten jenseits der Schule muss kritisch gesehen werden, da Abiturleistungen vom jeweiligen persönlichen Umfeld direkt beeinflussbar wären. Aus diesem Grund sollte das Erstellen der Prüfungsgegenstände im schulischen Rahmen erfolgen. So könnten in Projektkursen offene Settings etabliert werden, in denen die Lernenden – begleitet von Lehrkräften – frei an selbstgewählten Aufgabenstellungen arbeiten. Auf diese Weise können die Schülerinnen und Schüler sich notwendige Unterstützung und Feedback unmittelbar einholen.
zu 3. Nordrhein-Westfalen stellt die Formen der Leistungsüberprüfung neu auf
Die angestrebte Verkürzung und Vereinheitlichung von Klausurzeiten begrüßt der VBE NRW. Die Klausurzeiten sind aktuell in den einzelnen Fächern, auch im Abitur, unterschiedlich und damit unübersichtlich. Es wäre wünschenswert, wenn die Dauer von Klausuren weiter einheitlich vorgeschrieben würde. Die Zeiten sollten dann auf der Basis des Mindestwertes kontinuierlich bis zum Abitur an die dort geltenden Werte stufenweise angepasst werden, damit auch jenseits der „Probeklausuren“ zu Beginn des Abiturhalbjahres der Komplexitätsgrad sukzessiv den Abschlussanforderungen entspricht.
In Eckpunkt 3 wird ebenfalls auf die neuen Formate der Leistungsüberprüfung Bezug genommen, verbunden mit der Möglichkeit, Klausuren in vollem Umfang unter bestimmten Voraussetzungen ersetzen zu können. Teils impliziert dies alternative Prüfungsformate, wie die Sprachprüfungen in Französisch oder Englisch. Diese Formate führen dazu, dass an diesem Prüfungstag kein regulärer Unterricht in diesen Fächern stattfindet und zusätzliche Kräfte zum Beispiel in Vorbereitungsräumen gebunden sind.
In dem Rahmen der technischen Möglichkeiten, die KI bietet, scheinen andererseits Facharbeiten als mögliche Ersatzleistung für eine Klausur nicht immer gleichwertig zu sein. Dennoch hält der VBE NRW die Möglichkeit, einzelne Klausuren zu ersetzen, für sinnvoll, da man so zeitgemäße und kreativere Formen der Leistungsbewertung etablieren kann, welche den Lernenden und deren Lebenswelt gerechter werden.
zu 4. NRW stellt sich weiterhin klar profiliert und fachlich stark auf
Der VBE NRW begrüßt sämtliche Aspekte der avisierten Änderungen, besonders die Gleichstellung des Faches Informatik mit den klassischen Naturwissenschaften.
zu 5. NRW behält seine bewährten Kursarten und schärft sie weiter aus
in Verbindung mit
6. Nordrhein-Westfalen hält an den bewährten Stundenumfängen von Grund- und Leistungskursen fest, sichert individuelle Fördermöglichkeiten und behält Streichergebnisse bei
Die Beibehaltung des Kurssystems sowie die Ausschärfung von Projektkursen und Vertiefungskursen erachtet der VBE NRW (gerade in Anbetracht der in den ersten Punkten vorgeschlagenen Maßnahmen) grundsätzlich als sinnvoll. Im sechsten Eckpunkt wird gleichermaßen die Kontinuität zu den derzeit gültigen Bestimmungen betont: Die Beibehaltung des Stundenumfangs, die Sicherung der individuellen Fördermöglichkeiten und das Weiterbestehen der Streichergebnisse stehen im Einklang mit der Weiterführung des bestehenden Kurssystems.
Die Weiterentwicklung der Projektkurse erfolgt im Hinblick auf das neue fünfte Abiturfach, welches als Kurs in der Qualifikationsphase verbindlich wird. Dies bedeutet für die Schülerinnen und Schüler, dass nun ein bisher freiwillig oder aufgrund der sonstigen Wahlen erforderliches Fach wegfällt. Inwiefern dann die Kompetenzen aus anderen Fächern in die Projektkurse zur Vorbereitung der Prüfungsformate im fünften Abiturfach systematisiert einfließen, muss abgewartet werden. Grundsätzlich bleibt fraglich, ob die Vertiefungskurse nicht ebenfalls gestärkt werden müssen, da die Heterogenität zunimmt und Schülerinnen und Schüler, die aus anderen Schulformen in die Oberstufe wechseln, für jede Form der Förderung dankbar sind. Den Schulen sollte die Wahlmöglichkeit bereitgestellt werden, Vertiefungskurse hinsichtlich der Stundenzahl, des Fachbezuges und der Kursbelegung in einem gewissen Korridor flexibel anzubieten.
29.02.2024
Anne Deimel Stefan Behlau
Landesvorsitzende VBE NRW Landesvorsitzender VBE NRW
Starke Bildung. Starke Menschen.